Ausgabe 26/1999
Hamburg, Januar 1999
"Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik"
Lageanalyse und Empfehlungen zur Friedens- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Oktober 1998.*
INHALT
1. Einleitung: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik"
2. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik - GASP
3. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik - WEU
4. Konfliktprävention und die GASP
5. NATO/Atlantische Partnerschaft
6. Stärkung der rechtlichen Basis der OSZE und obligatorische Streitschlichtung
8. OSZE und nicht-militärische internationale Polizeieinsätze
9. Förderung der Friedensforschung
10. Abrüstung und Rüstungskontrolle - Massenvernichtungswaffen
11. Präventive Rüstungskontrolle
12. Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen
13. Abrüstung und Rüstungskontrolle - Kleinwaffen
14. Peacekeeping - "Standby Forces"
15. Das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen
16. Reform der Vereinten Nationen
17. Bundeswehr/Wehrstrukturkommission/Wehrpflicht
19. Gute Nachbarschaft und historische Verantwortung - Israel
20. Gute Nachbarschaft und historische Verantwortung - Rußland
* Verfaßt von: Hans-Georg Ehrhart, Hans-Joachim Gießmann, Sabine Jaberg, Margret Johannsen, Matthias Karádi, Anna Kreikemeyer, Dieter S. Lutz, Erwin Müller, Reinhard Mutz, Götz Neuneck, Ursel Schlichting, Thorsten Stodiek, Wolfgang Zellner.
Die nachfolgend angeführten Seitenangaben beziehen sich auf: "Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert". Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen, Bonn, 20. Oktober 1998.
1. Einleitung: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik"
Die großen Hoffnungen, die mit der sogenannten Zeitenwende von 1989/90 verbunden wurden, haben sich bislang nicht erfüllt: Die Welt gerät mehr und mehr aus den Fugen (Helmut Schmidt). Barbarische Kriege - ethnisch verursacht oder verbrämt - finden inzwischen auch mitten in Europa statt. Existentielle Gefahren und Risiken bedrohen die Menschen darüber hinaus in einem zunehmenden Maß - vom Zerfall der Staaten und dem Chaos der Kapitalmärkte über die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln und der Zunahme des Terrorismus bis hin zum Raubbau an den Ressourcen und der unwiederbringlichen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Mit militärischen Mitteln allein - und überdies nachträglich - ist diesen Risiken und Gefahren nur bedingt oder gar nicht beizukommen. An die Stelle des "Rechts des Stärkeren" muß vielmehr zwingend die "Stärke des Rechts" treten. Das Motto "Vorbeugen ist besser als heilen" besitzt ultimativen Charakter.
Beide Leitlinien - zivile Prävention und Stärkung des Rechts - finden sich in ausgeprägter Weise in den Koalitionsvereinbarungen für die neue Bundesregierung. SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen u.a. die rechtliche Stärkung der OSZE, die obligatorische friedliche Streitschlichtung, die Schaffung internationaler Polizeikräfte, den Ausbau der Instrumente zur Durchsetzung von Wirtschaftssanktionen, die Steigerung des Entwicklungshaushaltes, die vollständige Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln, die Beschränkung des Rüstungsexportes, die Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich ziviler Friedensdienste, die finanzielle Förderung der Friedensforschung und vieles vergleichbare mehr. Die Bundeswehr schließlich soll über die Einrichtung einer Wehrstrukturkommission eine moderne, effektive, demokratische und verfassungsgemäße Struktur erhalten.
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des IFSH haben im folgenden 20 dieser Zielsetzungen aufgegriffen, die jeweilige "Lage" beschrieben und "Empfehlungen" formuliert. Sie wollen auf diese Weise dazu beitragen, die Vorhaben zu befördern und andererseits den Anstoß geben, Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik öffentlich zu diskutieren. Das vorliegende Papier ist in diesem Sinne ein Angebot.
Gelingt es der neuen Bundesregierung, die Ziele und Ankündigungen der Koalitionsvereinbarung in Politik umzusetzen, so trägt sie dazu bei, den hohen Anspruch zu verwirklichen, den ihr Programm erhebt: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik" (Kap. XI, Abschn. 1, Seite 42).
2. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik - GASP
"Die neue Bundesregierung wird sich bemühen, die GASP im Sinne von mehr Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik weiter zu entwickeln. Sie wird sich deshalb für Mehrheitsentscheidungen, mehr außenpolitische Zuständigkeiten und die Verstärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität einsetzen." (Kap. XI, Abschn. 3, Seite 44)
Lage
Die internationale Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ist angesichts zunehmender globaler Herausforderungen und abnehmender nationalstaatlicher Problemlösungskompetenz eine Notwendigkeit. Nachdem am 1. Januar 1999 mit der Einführung des Euro ein historischer Schritt im Prozeß der europäischen Gemeinschaftsbildung gemacht worden ist, gilt es nun, das föderale Leitbild der EU auch auf dem Felde der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zur Geltung zu bringen. Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik heißt nichts anderes als die graduelle Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaftsorgane.
Die in Amsterdam gefundene neue Formel für die Außenvertretung der GASP durch den Ratsvorsitz, die Kommission und den Hohen Beauftragten für die GASP ist gegenüber der früheren Regelung ein kleiner Fortschritt. Die Kommission wird aufgewertet und die EU-Außen- und Sicherheitspolitik erhält durch eine(n) "Frau oder Herrn GASP" ein Gesicht. Der öffentlichkeitswirksame Vorteil des Hohen Beauftragten könnte allerdings teuer erkauft werden durch zunehmende Komplexität und neue Kompetenzkonflikte.
Grundsätzlich erfordert eine demokratische EU eine Balance zwischen dem Europäischen Parlament (EP) als dem direkt gewählten Mitentscheidungsforum der Unionsbürger und dem Ministerrat als dem Organ der Mitgliedstaaten. Der im Vorfeld der Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrages gefundene Kompromiß in Form eines interinstitutionellen Abkommens zwischen EP, Rat und Kommission räumt dem EP zwar mehr Rechte bei der zuvor umstrittenen Kontrolle der Gemeinschaftsausgaben ein. Diese beziehen sich aber in erster Linie auf Fragen der Bereitstellung von Finanzmitteln; ausgeklammert werden hingegen die politisch relevanten Fragen der Durchführung und Kontrolle von gemeinsamen Aktionen, die aus dem Gemeinschaftshaushalt finanziert werden. Ebenfalls ungelöst ist die Frage, welche Rolle die Kommission bei der Vorbereitung und Durchführung einer gemeinsamen Aktion spielt. Bleibt die Kommission auf eine buchhalterische Funktion beschränkt, so kann auch das EP seiner Kontrollfunktion gegenüber der Kommission nur eingeschränkt nachkommen.
Darüber hinaus mangelt es der GASP bereits aus strukturellen Gründen an Kontinuität und Transparenz. Die Defizite, die sich zwangsläufig aus dem alle sechs Monate wirkenden Rotationsverfahren des Ratsvorsitzes ergeben, machen eine kontinuierliche Führung und Betreuung von gemeinsamen Aktionen nahezu unmöglich. Darin liegt ein zentrales ungelöstes Problem der GASP, das auch nicht durch die Neuformierung der Troika und die Schaffung einer Strategieplanungs- und Frühwarneinheit - die im übrigen keine vertraglichen Zuständigkeiten für die Vorbereitung und Durchführung von gemeinsamen Aktionen hat - gelöst wird.
Der Entscheidungsprozeß und die Effizienz der GASP leiden nach wie vor darunter, daß Mehrheitsentscheidungen noch immer keine generelle Gültigkeit haben. Der Amsterdamer Vertrag hat zwar diesbezüglich bescheidene Fortschritte erbracht. Es ist auch unbestreitbar, daß eine handlungsfähige und effiziente GASP zunächst eines gemeinsamen politischen Willens bedarf. Die Erfahrungen aus dem ersten Pfeiler belegen aber, daß dieser Wille sich eher herausbildet, wenn die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen besteht.
Empfehlungen
Kurzfristig sind die Kompetenzen, Instrumente und finanziellen Mittel des Hohen Beauftragten für die GASP möglichst eindeutig und großzügig zu definieren. Zur Stärkung der Präventionspolitik ist ihm das Initiativrecht zu übertragen. Die Zuständigkeiten der Strategieplanungs- und Frühwarneinheit sind vertraglich festzulegen. Ihre Verbindung zu entsprechenden Einrichtungen des ersten Pfeilers ist zu gewährleisten. Durch eine neue interinstitutionelle Vereinbarung sollte sichergestellt werden, daß die Kommission bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung der GASP beteiligt wird.
Mittelfristig muß das EP an GASP-Entscheidungen durch das Kodezisionsverfahren, bei dem die Entscheidungsbefugnis gemeinsam von Parlament und Rat ausgeübt wird, beteiligt werden. GASP-Entscheidungen des Ministerrates sollten grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden. Die Handlungsfähigkeit der EU erfordert zudem, daß die Union Rechtspersönlichkeit erhält. Der grundsätzliche Konstruktionsfehler der EU, der darin besteht, daß die GASP einerseits intergouvernemental organisiert ist, andererseits aber aus dem Gemeinschaftshaushalt finanziert wird, muß durch die Vergemeinschaftung der GASP beseitigt werden.
3. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik - WEU
"Die neue Bundesregierung wird sich bemühen, die WEU auf der Basis des Amsterdamer Vertrages weiterzuentwickeln." (Kap. XI, Abschn. 3, Seite 44)
Lage
Zur Glaubwürdigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gehört nicht zuletzt auch die Verfügung über militärische Mittel. Vor diesem Hintergrund bekräftigen die Mitglieder der Westeuropäischen Union (WEU) in einer dem Amsterdamer Vertrag beigefügten Erklärung die Notwendigkeit einer echten europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität. Bislang ist die Schaffung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im EU-Vertrag nur perspektivisch enthalten. Allerdings nennt der Amsterdamer Vertrag zwei wichtige Bereiche: Erstens sieht er die Schaffung eines europäischen Rüstungsmarktes und einer europäischen Rüstungsagentur vor. Beides ist notwendig, um die erforderlichen militärischen Mittel zur Krisenbewältigung möglichst kostengünstig bereitstellen und ein Mindestmaß an rüstungstechnologischer Unabhängigkeit Europas bewahren zu können.
Der zweite sicherheitspolitische Bereich im Amsterdamer Vertrag umfaßt das Verhältnis zwischen EU und WEU. Zum einen sind die sog. Petersberg-Aufgaben der WEU in den EU-Vertrag integriert worden. Zum anderen hat der Europäische Rat die Leitlinienkompetenz über die WEU übernommen. Dadurch ist diese zwar unter das Dach der EU gestellt, jedoch nicht in die EU integriert worden. Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität wird sich jedoch nur dann im Rahmen der atlantischen Allianz entwickeln können, wenn die EU auch im Bereich der äußeren Sicherheit ein vollwertiger Partner der Vereinigten Staaten wird. Daraus folgt aber nicht, die militärischen Kapazitäten Washingtons zu duplizieren. Eine solche Politik wäre politisch kontraproduktiv und finanziell untragbar. Die Devise muß vielmehr lauten, mittels verstärkter europäischer Kooperation und Integration aus weniger mehr zu machen und so die EU in die Lage zu versetzen, eine aktive und kohärente Friedenspolitik in und für Europa verfolgen zu können.
Empfehlungen
Kurzfristig sollten EU und WEU durch konkrete Zwischenschritte wie etwa die weitere Harmonisierung von Verfahren oder die Stärkung der operationellen Kapazitäten einander angenähert werden. Darüber hinaus könnte der Europäische Rat die Einrichtung eines Rates der Verteidigungsminister beschließen.
Mittelfristig bieten sich zwei Optionen an: Entweder wird die WEU als vierter Pfeiler in die EU integriert und nicht benötigte Organe werden aufgelöst (z.B. die Parlamentarische Versammlung der WEU). Oder die WEU wird in eine dem zweiten Pfeiler nachgeordnete Agentur umgewandelt, die Weisungen des Europäischen Rates umsetzt. Darüber hinaus sollten langfristig auch Beschlüsse mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen mit qualifizierter Mehrheit gefaßt werden. Zudem sollte die gemeinsame Rüstungspolitik mit einer gemeinsamen Rüstungsexport- und einer gemeinsamen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik verbunden und in ein friedenspolitisches Gesamtkonzept eingefügt werden.
4. Konfliktprävention und die GASP
"Die GASP soll in ihrer weiteren Entwicklung verstärkt dazu genutzt werden, die Fähigkeit der EU zur zivilen Konfliktprävention und friedlichen Konfliktregelung zu steigern." (Kap. XI, Abschn. 3, Seite 44)
Lage
Zu unterscheiden ist zwischen struktureller und spannungsbezogener Konfliktprävention. Strukturelle Konfliktprävention meint eine umfassende, alle gesellschaftlichen und politischen Teilbereiche einbeziehende Konflikttransformation, die die jeweiligen Konfliktursachen in einer neuen Konstellation politischer Bedingungen, Ziele und Mittel ‚aufhebt'. Demgegenüber ist der Anspruch spannungsbezogener Konfliktprävention bescheidener: Sie versucht, den Umschlag von Spannungen in gewaltsam ausgetragene Konflikte zu verhindern und Maßnahmen zur Konsolidierung der Konfliktsituation einzuführen.
Hauptträger struktureller Konfliktprävention in Europa ist die Europäische Union, Hauptmittel ist die seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten bewußt instrumentell eingesetzte Erweiterung der Union um mitteleuropäische Staaten. Aus Zuschnitt und Zeitabfolge der EU-Erweiterung ergeben sich die Chancen und Grenzen dieses Makroansatzes struktureller Konfliktprävention: Die EU-Erweiterung richtet sich primär auf das klassische Mitteleuropa (einschließlich der baltischen Staaten) und damit auf jene Bereiche, in denen das Konfliktrisiko ohnehin relativ gering ist. Demgegenüber erscheinen die Integrationschancen Rumäniens und Bulgariens deutlich geringer, während sich die Regionen mit den größten Konfliktrisiken - die Folgestaaten Jugoslawiens bzw. der Sowjetunion - auch mittel- bzw. langfristig kaum Integrationshoffnungen machen dürfen.
Die Europäische Union hat in den Jahren 1994 und 1995 mit bescheidenem Erfolg ihr erstes Unternehmen präventiver Diplomatie gestartet, den Stabilitätspakt für Europa. Das Nachfolgeprojekt für Südosteuropa hingegen, der sog. Royaumont-Prozeß, kam bisher kaum von der Stelle. Im Bereich der Frühwarnung hat die EU das "Conflict Prevention Network" begründet, einen losen Zusammenschluß einschlägiger Institute, NGOs und Einzelwissenschaftler, das den EU-Gremien relevante Frühwarninformationen zur Verfügung stellen soll. Darüber hinaus sieht der Vertrag von Amsterdam die Einrichtung einer Strategieplanungs- und Frühwarneinheit vor.
Insgesamt ist festzuhalten: Die strukturelle Konfliktprävention durch die Erweiterung der EU konzentriert sich auf jene Regionen, in denen die Risiken am geringsten sind und greift dort am wenigsten, wo sie am nötigsten wäre. Elemente struktureller Konfliktprävention für Südosteuropa und die Folgestaaten der Sowjetunion fehlen weitgehend. Im Bereich spannungsbezogener Prävention fehlen der EU sowohl konsolidierte Frühwarnkapazitäten als auch Handlungsinstrumente. Initiativen präventiver Diplomatie über den Erweiterungsraum hinaus gehen von der EU nur sporadisch aus.
Empfehlungen
Im Bereich der strukturellen Konfliktprävention sollte der EU-Vorsitz kurz- bis mittelfristig zusammen mit der OSZE, dem Europarat, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und der Weltbank eine leistungsfähige Kooperationsstruktur aufbauen, die Entscheidungen über das Wann, Wo und Wie struktureller Konfliktprävention vorprägen kann. Dabei sollten in enger Kooperation mit der OSZE und dem Europarat die auf Demokratieaufbau, Entwicklung von Zivilgesellschaften und freie Medien bezogenen Tätigkeiten verstärkt werden. Ein erstes größeres Projekt könnte die Einrichtung eines "Radio Free Balkans" betreffen, das von der Europäischen Union, der OSZE und dem Europarat gemeinsam getragen wird. Die Union sollte die Initiative ergreifen, aus freiwilligen Beiträgen und Zuwendungen internationaler Finanzorganisationen einen Konfliktverhütungsfonds einzurichten, aus dem Projekte struktureller Konfliktprävention in Kooperation mit der OSZE und dem Europarat finanziert werden können.
Längerfristig sollte sich die Europäische Union zum Ziel setzen, die Arbeit der internationalen Finanzorganisationen (IWF, Weltbank, EBRD) dahingehend umzuorientieren, daß sich ein Teil ihrer Tätigkeit explizit an Zielen der Konfliktprävention ausrichtet. Für Staaten, die der EU beitreten wollen, deren Beitritt mittelfristig aber nicht realisierbar erscheint, sollte die Union spezifische Arrangements zwischen Kooperation bzw. Assoziierung und Beitritt erarbeiten. Spezifische Präventionsprogramme sollten insbesondere für Südosteuropa und den (Trans-)Kaukasusraum erarbeitet werden.
Im Bereich der spannungsbezogenen Konfliktprävention sollte die Europäische Union eine Duplizierung von Instrumentarien vermeiden, die insbesondere bei der OSZE und beim Europarat bereits vorhanden sind. Statt dessen sollten die vorhandenen und im Entstehen begriffenen Instrumente bei den einzelnen Organisationen bis hin zur Fusion einzelner Funktionsbereiche vernetzt werden. Längerfristig sollte die EU durch die Bereitstellung eines Konfliktverhütungsfonds in enger Abstimmung mit den anderen Organisationen dazu beitragen, den Schwerpunkt spannungsbezogener präventiver Diplomatie mehr in Richtung auf projektorientiertes präventives Handeln mit stärkeren strukturellen Anteilen zu verlagern.
5. NATO/ Atlantische Partnerschaft
"Die neue Bundesregierung betrachtet das Atlantische Bündnis als unverzichtbares Instrument für die Stabilität und Sicherheit Europas sowie für den Aufbau einer dauerhaften europäischen Friedensordnung. Die durch die Allianz gewährleistete Mitwirkung der Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Präsenz in Europa bleiben Voraussetzungen für Sicherheit auf dem Kontinent." (Kap. XI, Abschn. 4, Seite 45)
Lage
Seit einem Jahrzehnt gehört der Ost-West-Konflikt, die politische Konstellation, aus der die NATO vier Jahrzehnte lang ihren Auftrag und ihr Selbstverständnis bezog, der Geschichte an. Der militärische Gegner existiert nicht mehr. Die Organisation kollektiver Selbstverteidigung stellt nicht länger das vordringliche Erfordernis europäischer Sicherheit dar. Wenn im Frühjahr 1999 Polen, Ungarn und die Tschechische Republik der Allianz beitreten, vergrößern sie gleichwohl ein Bündnis, dessen vertragliche Grundlage sich um keinen Buchstaben verändert hat. Artikel V des Nordatlantikvertrages beschreibt als Zweck des Bündnisses die gegenseitige kollektive Beistandsleistung im Fall eines bewaffneten Angriffs gegen eines oder mehrere seiner Mitglieder. Artikel VI bestimmt als Geltungsbereich des Vertrages das Territorium der Mitgliedstaaten sowie Inseln, Schiffe und Flugzeuge im Gebiet des Nordatlantiks.
Auch der aktuelle Kräftestand läßt sich nicht mehr aus der grundlegend gewandelten Sicherheitslage begründen. Nach wie vor halten die NATO-Staaten in Europa zweieinhalb Millionen Soldaten unter Waffen, weitere anderthalb Millionen stehen in den USA und Kanada. Die Aufnahme der drei mittelosteuropäischen Neumitglieder wird die Truppenstärke um nochmals 360.000 Mann erhöhen. Allein die Vereinigten Staaten gaben 1997 für Streitkräfte und Rüstungen 250 Milliarden Dollar aus. Über einhundert Milliarden zusätzlich sind für die kommenden sechs Jahre geplant - der größte Aufrüstungsschub seit der Ära Reagan. Statt die Mannschafts-, Waffen- und Haushaltsstände abzusenken, strebt die NATO ein Abrüstungsmoratorium an.
Dem offenkundigen Funktionsverlust als Selbstverteidigungsbündnis nach der Epoche der Systemkonfrontation hat die NATO auf zweierlei Weise zu begegnen versucht. Zum einen hat sie mit einer Vielzahl neuer Programme und Foren - dem NATO-Kooperationsrat, der Partnerschaft für den Frieden, dem Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat, der NATO-Rußland-Grundakte und der NATO-Ukraine-Charta - Strukturen kooperativer Sicherheitspolitik gelegt. Daraus ist ein Geflecht institutionalisierter Information, Diskussion und Konsultation entstanden. Nicht entstanden ist ein System europäischer Sicherheit, das auf dem Grundsatz gleicher Rechte und gleicher Pflichten beruht. Die NATO behält sich vor, ihre Entscheidungen, auch solche, die andere Angelegenheiten betreffen als die der kollektiven Selbstverteidigung, im Kreis nur der eigenen Mitglieder zu fällen. Vor allem aber ist es nicht gelungen, den Widerstand Rußlands gegen jenen Prozeß zu überwinden, der je nach Blickwinkel als Öffnung, Erweiterung oder Expansion der NATO nach Osten verstanden wird.
Zum anderen war die NATO bemüht, den Sinn- und Funktionsverlust durch ein erweitertes Aufgabenspektrum zu kompensieren. Im Frühjahr 1992 bot sie erstmals an, friedenserhaltende Aktivitäten zu unterstützen - damals noch versehen mit dem einschränkenden Zusatz "unter der Verantwortung der KSZE". Daraus entwickelte sich schrittweise ein immer ehrgeizigeres Rollenverständnis. Inzwischen sieht sich die NATO als Friedens- und Stabilitätsanker Europas, beansprucht in einem Gefüge sich ergänzender und verstärkender Sicherheitsinstitutionen die Führungsrolle und weist es als Zumutung zurück, einer anderen internationalen Organisation nach- bzw. untergeordnet zu werden. Die bevorstehende Verabschiedung eines neuen Strategie-Dokuments könnte den Prozeß zu einem vorläufigen Abschluß bringen, indem letzte Handlungsbeschränkungen fallen. Die strikte Respektierung des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen, so die am weitesten gehenden Vorstellungen, soll abgestreift, die geographische Begrenzung des Vertragsgebietes aufgehoben und die NATO zu einem weltweit operationsfähigen Interventionsinstrument ausgebaut werden. Damit gerieten die Staaten der westlichen Allianz unausweichlich in einen wachsenden Gegensatz zu den sich selbst im Nordatlantikvertrag auferlegten Pflichten, die "Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen" zu achten (Präambel) und "sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist" (Artikel I).
Empfehlungen
Die erste und grundlegende Voraussetzung erfolgreicher Friedenssicherung besteht darin, die Parteien zwischenstaatlicher wie innerstaatlicher Konflikte wirksam davon abzuhalten, das Gewaltverbot zu brechen. Die NATO handelt diesem Ziel zuwider, wenn sie sich selbst vom Gewaltverbot freistellt und beansprucht, nach eigener Interessenlage und Opportunität zu entscheiden, wann, wo und gegen wen sie ihre Waffen einsetzt. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag dazu klar Position bezogen, indem sie ankündigte, sie werde "im Rahmen der anstehenden NATO-Reform darauf hinwirken, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverteidigung an die Normen und Standards von VN und OSZE zu binden". Kurzfristig geht es also darum, exakt diesen Vorsatz umzusetzen. Die deutsche Regierung steht mit ihrem Anliegen nicht allein, sondern kann auf die Unterstützung von Bündnispartnern wie Frankreich, Italien, Norwegen, Dänemark und Kanada zählen.
Illusionär wäre es sicherlich, zu meinen, eine auf die gegenwärtigen und künftigen Gefährdungen zugeschnittene Sicherheitsordnung Europas könne auf die Verfügung über militärische Mittel verzichten. Wer sich als schärfste Waffe auf gutes Zureden verlassen muß, hält zuwenig in der Hand. Als ebenso unzweckmäßig erscheint jedoch, ausgerechnet derjenigen multinationalen Organisation die Schlüsselrolle und Hauptverantwortung für die Erhaltung regionaler Sicherheit zuzuerkennen, deren angestammte professionelle Qualifikation in der militärischen Machtprojektion sowie der Androhung und Anwendung von Waffengewalt besteht. Die mindestens gleichermaßen wichtige, wenn nicht sogar wichtigere, aktive und effiziente politische Konfliktvorsorge findet dann, wie oft genug erwiesen, nicht statt. Als langfristige Aufgabe stellt sich mithin die Herausforderung, die Reform der NATO in eine Richtung zu führen, die den veränderten politischen wie militärischen Erfordernissen europäischer Sicherheit gerecht wird. Dazu gehört unter anderem ein System aufeinander abgestimmter Vorkehrungen der politischen Konfliktvorbeugung, der zivilen Streitbeilegung, der Schlichtung und Vermittlung wie andererseits auch der Eindämmung und Unterbindung bereits ausgebrochener Gewalt zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt und auf niedrigstmöglichem Niveau, jedoch auf einer zweifelsfreien rechtlichen Grundlage und einer gegen interessenpolitischen Mißbrauch gesicherten Verfügungsregelung für den Anwendungsfall. Es spricht nichts dagegen, daß die NATO wie bisher die alleinige Zuständigkeit in den Angelegenheiten der kollektiven Selbstverteidigung ihrer Mitglieder wahrnimmt. Sie kann jedoch kaum dieselbe Zuständigkeit in allen Fragen der Planung, Abstimmung, Beschlußfassung und Ausführung von Maßregeln zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa beanspruchen. Für diese Funktion bietet sich ein Gremium nach dem Vorbild des Euroatlantischen Partnerschaftsrats an. Er umfaßt bereits heute alle nordamerikanischen und europäischen Staaten, die bereit und fähig sind, auf der Grundlage gleicher Rechte und Pflichten den ihnen zukommenden Anteil an den anstehenden Aufgaben zu übernehmen.
6. Stärkung der rechtlichen Basis der OSZE und obligatorische friedliche Streitschlich- tung
"Die OSZE ist die einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation. Das macht sie unersetzlich. Die neue Bundesregierung wird deshalb Initiativen ergreifen, um die rechtliche Basis der OSZE zu stärken und die obligatorische friedliche Streitschlichtung im OSZE-Raum durchzusetzen." (Kap. XI, Abschn. 5, Seite 45)
Lage
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist die einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation. Sie wurde 1975 als Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von den Staats- und Regierungschefs aus 35 europäischen und nordamerikanischen Ländern ins Leben gerufen. Heute umschließt sie 55 Staaten: Kein europäisches Land fehlt oder ist ausgeschlossen (die Mitgliedschaft Jugoslawiens ist lediglich suspendiert).
Auf ihrem Vierten KSZE-Folgetreffen in Helsinki beschlossen die Staats- und Regierungschefs der KSZE-Teilnehmerstaaten am 10. Juli 1992, "daß die KSZE eine regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen ist und als solche ein wichtiges Bindeglied zwischen europäischer und globaler Sicherheit darstellt". Auf ihrem Gipfeltreffen in Budapest im Dezember 1994 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der KSZE-Teilnehmerstaaten ferner, daß die KSZE ab dem 1. Januar 1995 den Namen "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)" tragen wird. Bereits während ihres Gipfels im Juli 1992 hatten die Staats- und Regierungschefs beschlossen, auf der Grundlage eines Vorschlages von Frankreich und Deutschland, die Gründung eines Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE ins Auge zu fassen. Nach Hinterlegung der 12. Ratifikations- bzw. Beitrittsurkunde trat am 5. Dezember 1994 das "Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der OSZE" in Kraft. Am 29. Mai 1995 wurde in Genf der Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eröffnet.
Mit den angeführten und ähnlichen Beschlüssen beschreitet die OSZE und mit ihr Europa einen friedens- und sicherheitspolitischen Weg, der vom "Recht des Stärkeren" hin zur "Stärke des Rechts" führt. Die kulturelle und nationalstaatliche Vielfalt, die einerseits die Einzigartigkeit und den Reichtum Europas ausmachen, verlangt von Europa andererseits dringend, den Weg der internationalen Rechtsvereinheitlichung zu gehen.
Europa braucht unabdingbar ein Sicherheitssystem und eine Friedensordnung, die dauerhaft und verläßlich auf die Stärke des Rechts bauen und sie auch durchsetzen - nach außen, aber auch und vor allem auch nach innen. Eine solche Friedens- und Sicherheitsordnung, die von jedem Mitglied oder Teilnehmer in gleicher Weise die Ein- und Unterordnung unter bestehendes Ordnungsrecht verlangt, gibt es aber selbst unter Berücksichtigung der angeführten Aktivitäten und Beschlüsse der OSZE bislang erst in Ansätzen: Zum einen glaubt einer der beiden nordamerikanischen Teilnehmerstaaten der OSZE, die USA, als einzig verbliebene Supermacht immer noch - wenn nicht sogar zunehmend - auf das vermeintliche "Recht des Stärkeren" pochen zu können (siehe z.B. das Irak-Bombardement im Dezember 1998 unter Mißachtung der Vereinten Nationen und des UN-Sicherheitsrates). Zum anderen hat weder die Erklärung der KSZE von 1992 als "regionale Abmachung" noch der Namenswechsel von Konferenz zur Organisation von 1994 die KSZE zu einer Organisation mit Völkerrechtssubjektivität gemacht. Nach wie vor kann weder die OSZE noch eines ihrer Organe rechtsverbindliche Beschlüsse gegenüber einem oder mehreren ihrer Teilnehmerstaaten fassen. Schließlich ist auch der mittlerweile eingerichtete OSZE-Gerichtshof weder obligatorisch, noch ist das vorgesehene Vergleichsverfahren verbindlich. Obwohl seit etwa fünf Jahren etabliert, hat überdies noch nicht ein einziges Verfahren vor dem OSZE-Gerichtshof stattgefunden.
Empfehlungen
Eine funktionierende und effektive Sicherheitsordnung verlangt eine effiziente internationale (Schieds-) Gerichtsbarkeit. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich deshalb - kurzfristig, besser noch sofort und durchaus auch einseitig - zu einer Unterwerfung unter eine obligatorische und rechtsverbindliche (Schieds-) Gerichtsbarkeit bereitfinden. Der OSZE-Gerichtshof in Genf könnte auf diese Weise entscheidend gestärkt werden. Um das (vermeintliche oder tatsächliche) Risiko der eigenen Vorleistung zu mindern und um einen zusätzlichen Anreiz zu geben, dem deutschen Beispiel zu folgen, könnte die Unterwerfungserklärung zeitlich limitiert und an die Prämie künftiger Unterwerfungserklärungen weiterer Staaten gebunden werden. Parallel dazu sollte die Bundesrepublik Deutschland darauf hinwirken, das Potential des Vergleichs- und Schiedsgerichtshofs der OSZE bzw. seiner Mitglieder im Sinne gutachterlicher Tätigkeiten in Nationalitätenkonflikten zu nutzen.
Mittelfristig kann die rechtliche Basis der OSZE nur gestärkt werden, wenn vorab das Verhältnis der USA zu Europa bzw. die Rolle der Vereinigten Staaten als Teilnehmerstaat der OSZE geklärt ist. Eine Sicherheitsordnung auf der Basis der Stärke des Rechts, wie sie Europa dringend braucht, verlangt von jedem Mitglied oder Teilnehmer in gleicher Weise die Ein- und Unterordnung unter bestehendes Ordnungsrecht. Es ist jedoch fraglich, ob sich Amerika unter Souveränitätsverzicht und ggf. unter Hintanstellung gegenläufiger Macht- und Wirtschaftsinteressen in ein europäisches Sicherheitssystem, das auch wirklich diesen Namen verdient, ein- und unterordnen wird.
7. OSZE und Krisenprävention
"Die OSZE ist die einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation. Das macht sie unersetzlich ... Instrumente und Kompetenzen sind durch bessere personelle und finanzielle Ausstattung zu stärken und ihre Handlungsfähigkeit auf dem Feld der Krisenprävention und Konfliktregelung zu verbessern." (Kap. XI, Abschn. 5, Seite 45)
Lage
Im Rahmen der OSZE bietet sich als Ansatzpunkt für die Gewaltprävention das Konfliktverhütungszentrum (KVZ) an. Es ist gegenwärtig Teil des OSZE-Sekretariats. Seine Funktion ist bislang beschränkt: Es verwaltet die Daten der Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) und dient als infrastruktureller Rahmen für die OSZE-Missionen. Mit Konfliktverhütung im wortgenauen Sinne hat das KVZ hingegen nichts zu tun. Diesem Mißstand müßte zügig abgeholfen werden: Die Schlüsselbegriffe für die anzustrebenden zukünftigen Befugnisse und Aktivitäten des KVZ lauten Früherkennung, Frühwarnung und Frühmaßnahmen (early recognition, early warning, early action). Denn je früher ein Konflikt, zumal ein potentiell gewaltträchtiger, erkannt, je früher auf ihn aufmerksam gemacht wird und je früher die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, desto größer ist die Chance für eine friedliche Bearbeitung. Dieser Sachverhalt gilt um so mehr, als der gegenwärtig dominierende, von ethnopolitischen bzw. ethnonationalistischen Faktoren geprägte Konflikttyp mit einer enormen Aufwuchsgeschwindigkeit und Eskalationsgefahr einhergehen könnte. Konflikte dieser Art sind nicht in erster Linie zwischenstaatlicher Natur, sondern in der Regel zumindest innerstaatlichen Ursprungs, wenn auch mit potentiell grenzüberschreitender Folgewirkung. Dieser Konflikttyp erfordert also auch, daß die Zuständigkeit des KVZ nicht nur auf zwischenstaatliche Angelegenheiten begrenzt sein darf, sondern gerade auch innerstaatliche Problemfälle einschließen muß.
Empfehlungen
Die Entwicklung des KVZ zu einer Einrichtung, die diesen Namen verdient, kann sofort vorbereitet werden. Ein vor allem symbolisch wichtiger Schritt wäre, daß alle in der OSZE bereits vorhandenden konfliktrelevanten Daten (z.B. beim Hohen Kommissar für nationale Minderheiten, dem Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte, beim Wirtschaftsforum) an das KVZ weitergeleitet und dort zentral registriert würden. Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, müßte das KVZ finanziell und personell entsprechend aufgestockt werden. Eine Verdoppelung der bisherigen Mittel wäre ein erstes Ziel. Durchaus sinnvoll wäre es, würde die Bundesregierung mit einer einseitigen Maßnahme ihren Willen zum Ausbau des KVZ unterstreichen und ein positives Signal setzen. Angesichts eines Haushaltes des KVZ von lediglich 3,4 Millionen DM sollte es der Bundesregierung nicht schwerfallen, dieses Signal deutlich ausfallen zu lassen.
Grundsätzlich benötigt das KVZ jedoch, um der Herausforderung einer wirksamen Prävention gewachsen zu sein, dringend eine Strukturreform: Hierbei handelt es sich notgedrungen um ein Projekt, das erst mittelfristig zu verwirklichen sein wird, da es der Zustimmung sämtlicher Teilnehmerstaaten bedarf. Dennoch - oder gerade deswegen - sind entsprechende Initiativen sofort einzuleiten. Diese müßten sich vor allem auf ein erweitertes Aufgabenprofil des KVZ richten.
Früherkennung verlangt nach einer systematischen Beobachtung von Entwicklungen sowie die unmittelbare und professionelle Auswertung der erhobenen Daten. Ziel muß es sein, nicht erst die manifesten, sondern bereits die latenten und noch diffusen Signale zu erfassen und richtig zu deuten. Dazu ist es erforderlich, zwei Beobachtungstechniken miteinander zu verbinden: die gezielte Verfolgung solcher Faktoren und Tendenzen, die bereits als Vorboten, Anzeichen oder mögliche Ursachen potentiell gewaltträchtiger Konflikte erkannt worden sind (monitoring) sowie die ungerichtete Sammlung von Daten (scanning). Das bedeutet: Das KVZ müßte über eine eigene wissenschaftlich-analytische Abteilung verfügen. Dort müßten beispielsweise Datenverarbeitungsexperten, Länder- bzw. Regionalexperten, Experten in konfliktrelevanten Problembereichen (hier vor allem: Menschen- und Minderheitenrechte, militärische Vertrauensbildung sowie insbesondere auch Ökonomie und Ökologie), Experten auf dem Gebiet friedlicher Streitbeilegung sowie Experten in Konflikttheorie zusammengeführt werden. Zum Aufgabenspektrum des KVZ müßte auch gehören, den Räten Vorschläge für mittel- bis längerfristige Präventionsstrategien zu unterbreiten.
Frühwarnung bedeutet, daß die Staatengemeinschaft zu einem frühen Zeitpunkt auf eine problematische Entwicklung aufmerksam gemacht wird. Dieser Bereich ist derjenige, in dem die OSZE am besten ausgestattet ist: Es besteht die Möglichkeit unter anderem für den Hohen Kommissar für nationale Minderheiten sowie elf an einem Konfliktfall nicht unmittelbar beteiligte Staaten zur Abgabe einer Frühwarnerklärung. Diese Anzahl könnte jedoch sinnvoller Weise gesenkt werden. Auch hier müßte das KVZ Handlungsempfehlungen an die Räte richten können.
Frühmaßnahmen erfordern sowohl das Recht als auch die Fähigkeit zur unmittelbaren Reaktion auf eine offensichtlich problematische Entwicklung. Das KVZ sollte künftig beides besitzen. Sein Direktor (bzw. ein mehrköpfiger Vorstand) sollte auf eigene Initiative und ohne die Beschlußfassung im Ständigen Rat abwarten zu müssen, Maßnahmen unterhalb der Sanktionsschwelle veranlassen bzw. durchführen können, die zur Deeskalation oder Lösung eines Konflikts zweckdienlich sind. Dazu zählen unter anderem: die Entsendung bzw. Durchführung kurzfristiger Erkundungsmissionen in Form einer (KVZ-) Expertengruppe - gegebenenfalls unter der Leitung des KVZ-Direktors oder eines Stellvertreters -, die Einleitung von Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung, Missionen sowohl zur präventiven Diplomatie als auch zur Vermittlung, Beratung von Beginn an nicht nur zum Verfahren, sondern auch zur Sache, die Abgabe von (schriftlichen) Empfehlungen zur Konfliktlösung an die Regierungen bzw. die zuständigen Regierungsmitglieder, gegebenenfalls Vorschläge für die Einleitung und die Art von Sanktionen zur Durchführung durch die politischen Organe.
Die Kompetenzen könnten möglicherweise sogar die Befugnis zur Stationierung von Blauhelmen, sofern die Konfliktparteien dem zustimmen, also zur Durchführung klassischer Peacekeeping-Operationen, umfassen. Für den letztgenannten Fall müßten dem KVZ Peacekeeping-Forces zur ständigen Verfügung stehen. Ebenfalls im KVZ könnte die - im Vergleich zu heute - wesentlich intensivere und zeitlich angemessenere (obligatorische) Ausbildung für künftige Missionsmitglieder angesiedelt werden. Damit entstünde auch ein "Pool" prinzipiell verfügbarer Missionsteilnehmer, die schneller als bisher einsetzbar sind. Auch hierfür sind die finanziellen und personellen Voraussetzungen zu schaffen.
8. OSZE und nicht-militärische internationale Polizeieinsätze
"Die OSZE ist die einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation ... Im Rahmen der Friedenskonsolidierung soll zur Schaffung einer stabilen Ordnung das Instrument nicht-militärische internationale Polizeieinsätze entwickelt und genutzt werden." (Kap. XI, Abschn. 5, Seite 45)
Lage
Die Instrumente und Mechanismen zur präventiven und notfalls repressiven Bearbeitung von Gewaltkonflikten, die der organisierten Staatengemeinschaft und insbesondere der UNO und der OSZE als friedensstiftende und friedenserhaltende Institutionen bislang zur Verfügung stehen, haben sich vielfach als nur eingeschränkt geeignet und gelegentlich auch als unzulänglich erwiesen. Die für die Zwecke des "peacekeeping" zuständigen Blauhelme der Vereinten Nationen verfügen in der Regel nicht über die Machtinstrumente und die Rechtskompetenz zur effektiven Durchsetzung ihres Mandats, sobald wortbrüchige Konfliktparteien die Kooperation verweigern. Das Desaster des Blauhelmeinsatzes im vormaligen Jugoslawien ist Beleg hierfür. Auf der anderen Seite sind aber auch genuin militärische Einsätze von schwerbewaffneten Kampftruppen keine Garantie für eine bessere Erfolgsbilanz, wie das Somalia-Debakel beweist. Der massive Waffeneinsatz nach den Maßstäben traditioneller Kriegsführung schweißte die oppositionellen Kräfte nur um so enger zusammen und provozierte ein Ausmaß von Gegengewalt, vor dem man schließlich zurückwich.
Was im Spektrum der friedenspolitischen Handlungsmöglichkeiten der OSZE - sei es konfliktvorbeugend, sei es im Rahmen der Regelungen friedlicher Streitbeilegung - stärker Beachtung finden muß, ist eine dritte Option, die weder die Ohnmacht der erwähnten ersten Variante kennt, noch der Versuchung der zweiten anheimfällt, komplexe Probleme über den Ruf nach Großwaffengebrauch regeln zu wollen. Gemeint ist die Option einer "internationalen Polizei", die sich von den beiden angeführten Varianten klar abgrenzt.
Erste Ansätze zu einer solchen "internationalen Polizei" finden sich im zuerst von den Vereinten Nationen umgesetzten Konzept des Einsatzes von Zivilpolizei (Civilian Police/UNCIVPOL), das durchaus Erfolge aufzuweisen hat und auch bereits im regionalen OSZE-Rahmen Anwendung findet.
Seit 1964 nahmen im Rahmen von UNCIVPOL Polizeibeamte aus 53 Ländern an 14 UN-Friedensmissionen teil. Die erste Mission mit einem offiziellen UNCIVPOL-Kontingent war bzw. ist die UNFICYP-Mission auf Zypern. Die jüngste UNCIVPOL-Mission findet derzeit im Rahmen von UNMIBH in Bosnien-Herzegowina statt. Dort sind 1.951 Polizisten im Einsatz. Deutschland stellt darunter mit 164 Polizisten den größten europäischen Anteil. Die Polizisten übernehmen in den UN-Friedensmissionen eine spezifische Rolle: Sie beobachten bzw. überwachen die Tätigkeit der einheimischen Polizei- und Sicherheitsorgane im Einsatzgebiet vor Ort, um rechtswidrigen Übergriffen dieser Kräfte durch die drohende Meldung und Veröffentlichung vorzubeugen. Ferner unterstützt UNCIVPOL den Aufbau wie die Organisation von Polizeistrukturen im Gastgeberland und gewährt Ausbildungshilfe.
Empfehlungen
Kurzfristig könnte die Bundesrepublik Deutschland Polizisten des Bundesgrenzschutzes und der Länder für künftige CIVPOL-Missionen der OSZE bereithalten, die mit dem Kontingent identisch sein könnten, das den Vereinten Nationen im Rahmen des UN Standby Arrangements System zur Verstärkung des SAS-CIVPOL-Pools angeboten werden sollte (siehe Abschnitt 14).
Deutschland sollte zudem auch am Aufbau einer internationalen Polizeiausbildungsakademie mitwirken. In solch einer Akademie würde CIVPOL-Beamten das für internationale Einsätze notwendige Wissen vermittelt. Darunter fallen Sprachkenntnisse, Kenntnisse über kulturelle Besonderheiten sowie religiöse und gesellschaftliche Sitten und Bräuche, Kenntnis der jeweiligen Rechtssysteme und Informationen über klimatische Bedingungen in den jeweiligen Einsatzgebieten. Damit würde die Kompetenz der CIVPOL-Beamten noch über das bisherige UN-Anforderungsprofil für die CIVPOL gehoben. Die Vereinten Nationen verlangen als Auswahlkriterium bisher lediglich eine geleistete Dienstzeit von mindestens sechs Jahren, gute Sprachkenntnisse in einer der Arbeitssprachen der Vereinten Nationen und die Fähigkeit zum Fahren eines Geländefahrzeuges. Die Polizeiausbildungsakademie könnte auf Erfahrungen der bereits bestehenden UN-Ausbildungszentren für Peacekeeping zurückgreifen.
Mittelfristig sollte Deutschland zur Fortentwicklung des Konzeptes "internationale Polizei" beitragen. Das Manko des bisherigen Konzeptes liegt darin, daß die internationalen Polizeikräfte in der Regel keine Exekutiv- oder Zwangsbefugnisse besitzen, weder gegenüber der Bevölkerung noch gegenüber dem einheimischen Sicherheitsapparat. Dies korrespondiert mit der Tatsache, daß UNCIVPOL normalerweise unbewaffnet agiert. Das Instrument könnte bzw. sollte demnach dadurch aufgewertet und effektiviert werden, daß den internationalen Zivilpolizisten zumindest Aufsichtsbefugnisse im Sinne der Rechtsaufsicht samt implizierter Weisungskompetenzen gegenüber den einheimischen Kräften zukämen. Gehorsamsverweigerungen unterlägen somit der Sanktion durch die vorgesetzten örtlichen Instanzen.
Soweit jedoch von einer Komplizenschaft zwischen über- und untergeordneten Organen auszugehen ist, wären die CIVPOL-Kräfte mit der Befugnis zur Anwendung physischer Zwangsgewalt auszustatten, um Rechtsbrüche der einheimischen Polizeiorgane präventiv zu unterbinden bzw. ihre Einstellung zu erzwingen. Eine Ausweitung des Konzepts läge in der Verleihung der Kompetenz, exekutiv gegen Privat- oder Politkriminelle vorzugehen, deren Agieren die einheimischen Polizeikräfte Desinteresse oder gar Sympathie entgegenbringen bzw. zu deren Bekämpfung ihre Handlungskapazität nicht hinreicht.
Die logische Konsequenz dieses Modells ist die Ausstattung der CIVPOL-Kräfte mit einer angemessenen (überlegenen) Bewaffnung. Darüber hinaus könnten auch die Strukturen von Zivilpolizeieinheiten tangiert sein, etwa, wenn es um die polizeiliche Ausschaltung marodierender bewaffneter Banden oder die Kontrolle im paramilitärischen Verband agierender einheimischer Sonderpolizeien geht. In diesen Fällen wäre die Heranziehung schwerer bewaffneter und im Rahmen geschlossener Einheiten tätiger Polizei(truppen) unumgänglich, also z.B. von Verbänden deutscher Bereitschaftspolizei/Bundesgrenzschutz, italienischen Karabinieri, französischer Gendarmerie Nationale oder spanischer Guardia Civil.
9. Förderung der Friedensforschung
"Die neue Bundesregierung setzt sich für ... (die) finanzielle Förderung der Friedens- und Konfliktforschung (ein) ..." (Kap. XI, Abschn. 5, Seite 45)
Lage
Frieden ist ein politischer Prozeß. Er soll im Zusammenleben der Menschen und Völker der Existenzerhaltung und -entfaltung dienen. Er ist die Voraussetzung dafür, daß die Menschenrechte verwirklicht und Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Armut, Hunger, Unterdrückung verhütet bzw. beseitigt werden. Er soll ferner die natürlichen Lebensgrundlagen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowohl nutzen als auch für kommende Generationen bewahren helfen. Friedensforschung kann entsprechend als der methodisch gelenkte Versuch verstanden werden, mit Blick auf die gegenwärtigen und künftigen Lebensgrundlagen nach den Ursachen und Gründen von Gewalt, insbesondere von Kriegen, zu fragen und nach Wegen ihrer Überwindung, gegebenenfalls ihrer Vermeidung oder Eindämmung zu suchen. Aus diesem Verständnis resultieren mindestens drei Wesensmerkmale von Friedensforschung: Friedensforschung ist zum einen Teil des Friedensprozesses selbst. Zum anderen ist Friedensforschung keine Angelegenheit für den akademischen Elfenbeinturm. Sie ist vielmehr Forschung für die Betroffenen, sei es im unmittelbaren Sinne für die Opfer von Gewalt, Krieg, Terror, Unterdrückung, Ausbeutung, sei es mittelbar im Sinne von Beratung und Hilfe für die Entscheidungsträger und politisch Verantwortlichen. Mit anderen Worten: Friedensforschung ist immer auch praxisorientiert. Drittens schließlich ist Friedensforschung auf Vorsorge und Prävention ausgerichtet. Sie will die Verhütung von Gewalt, insbesondere von Kriegen - sei es als Ursachenbeseitigung, sei es als Eskalationsbekämpfung.
Wie bitter notwendig Friedensforschung auch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist, zeigt die Realität täglich aufs neue. Keine der hochgesteckten Erwartungen, die an das Ende des Ost-West-Konfliktes geknüpft waren, hat sich bis heute erfüllt. Im Gegenteil: Das "neue Zeitalter des Friedens" erwies sich als voreilige Illusion. Kollektive Gewalt entlud sich in mannigfachen Formen: als Verdrängungs- und Aneignungskrieg, als Massenpogrom und Genozid, erwachsen aus ethnonationaler Rivalität, Haß und Existenznot. Selbst in Europa führten die wenigen Jahre seit dem Epochenwechsel zu einem Vielfachen an Kriegstoten als die Jahrzehnte davor.
Die Mittel für die Friedensforschung sind in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren gleichwohl drastisch reduziert worden: Gekürzt wurden z.B. die Friedensforschungsmittel im Haushalt der vormaligen Bundesforschungsminister. Bis auf einen geringeren Restposten taucht Friedensforschung im Bundesetat bis heute nicht mehr auf. Mitte 1990 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Friedensforschung als Sonderforschungsprogramm gestrichen. Anträge auf Einrichtung neuer Schwerpunkte wurden abgelehnt. Andere Drittmittelförderungseinrichtungen zogen nach. Selbst die Volkswagen-Stiftung, die sich große Verdienste um die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland erworben hat, beendete ihre beiden letzten Schwerpunktprogramme mit Beginn des Jahres 1995. Friedensforschung in Deutschland lastet heute auf den Schultern weniger. Gemessen an den Aufgaben reicht die personelle und finanzielle Ausstattung der verbliebenen Forschungseinrichtungen nicht aus.
Empfehlungen
Friedensforschung soll sowohl Grundlagenforschung betreiben als auch praxisorientiert arbeiten. Gerade deshalb aber muß sie befreit werden vom Druck politisch wechselnder Interessen, muß unabhängig gemacht werden von sachfremden, insbesondere finanziellen Abhängigkeiten. Dieses Anliegen hat absolute Priorität vor allen anderen Überlegungen und Empfehlungen mit Konsequenzen auf zwei Ebenen: Zum einen muß Friedensforschung finanziell ausreichend ausgestattet sein. Zum anderen muß Friedensforschung auf Dauer etabliert werden und vor den kurzfristigen Zugriffsmöglichkeiten der jeweiligen politischen Wechselfälle geschützt werden. Die entscheidende Forderung bzw. Empfehlung ist deshalb die Gründung einer in ihrer Konstruktion auf Dauer angelegten und mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestatteten Bundesstiftung.
Der kurzfristig für Politik und Wissenschaft ertragreichste Weg der Stärkung der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland besteht in der Verbesserung der personellen und finanziellen Situation der bereits in der Bundesrepublik tätigen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. Erforderlich (und unter Rekrutierungsgesichtspunkten auch sinnvoll einsetzbar) wären bereits im laufenden Haushaltsjahr 1999 Finanzmittel in Höhe von DM sechs Millionen. Diese Summe könnte dazu dienen, die Personal- und Sachmittel der bestehenden Institute und Einrichtungen aufzustocken und deren Arbeit zu effektivieren, ferner um über Expertisen und Studien externe Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bzw. Einrichtungen zu unterstützen und schließlich, um im Sinne einer effektiven Drittmittelförderung Anträge von außen (mit freier Themenwahl) entgegenzunehmen. Schwerpunkte dieser kurzfristigen Forschungsförderung könnten Fragen der Gewaltprävention und der gewaltfreien Konfliktbearbeitung sein. Als vorläufige Eingrenzung - falls erforderlich - könnte der OSZE-Raum angesehen werden.
Mittelfristig wünschbar wäre die Gründung einer bundesdeutschen Stiftung Friedensforschung mit eigenem Finanzkapital. Diese Bundesstiftung sollte ein Dach bilden, unter dem sich die bestehenden bzw. noch zu gründenden Länderstiftungen und Länderinstitutionen inklusive Forschungsgruppierungen innerhalb und außerhalb der Universitäten zusammenfinden. Aufgabe der Bundesstiftung wäre die Stärkung, gegebenenfalls Absicherung der Grundfinanzierung der bestehenden Friedensforschungseinrichtungen der Länder, ferner die Gründung weiterer Friedensforschungsinstitute, z.B. eines Institutes zur Genozidforschung in Berlin, und die Förderung von Einzelprojekten innerhalb und außerhalb der Universitäten, drittens die kooperative Vernetzung der - auch im weiteren Bereich von Friedensforschungsthemen arbeitenden - Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und schließlich die Zusammenführung von Wissenschaft und Praxis.
10. Abrüstung und Rüstungskontrolle - Massenvernichtungswaffen
"Die kontrollierte Abrüstung von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen bleibt eine der wichtigsten Aufgaben globaler Friedenssicherung. Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen. (...) Sie ergreift Initiativen, um im Rahmen der KSE-Verhandlungen die Rüstungsobergrenzen deutlich unter das heutige Niveau zu senken." (Kap. XI, Abschn. 6, Seite 45-46)
Lage
Nach Ende des jahrzehntelangen Wettrüstens sind die globalen Militärausgaben seit 1987 von über 1.000 Mrd. Dollar auf ca. 700 Mrd. Dollar (laut IISS 800 Mrd.) zurückgegangen. 1997 lag die Abnahmerate allerdings nur noch bei 0,6 Prozent, d.h. die Reduktionen verlangsamen sich; die Ausgaben könnten sich auf einem relativ hohen Niveau einpendeln. Die USA und Europa einschließlich Rußlands waren 1996 für mehr als 70 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Das US-Militärbudget soll in den nächsten Jahren steigen. Es besteht die Gefahr, daß Abrüstung auf halbem Wege stehenbleibt. Pro Jahr werden lediglich drei Milliarden Dollar für Abrüstung ausgegeben. Neue technologische Entwicklungen und die Weiterverbreitung von Technologien zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen vergrößern die Gefahr, daß das Wettrüsten wieder angeheizt wird.
Die Rüstungsexporte nehmen nach dem durch das Ende der Hochrüstung bedingten Rückgang (ab 1987) seit 1995 wieder zu: sie stiegen um zwölf Prozent. Die Waffentransfers werden im wesentlichen von einer kleinen Gruppe von Lieferländern beherrscht: Allein USA (43%), Rußland (13%) sowie Großbritannien (10%), Frankreich (13%), China und Deutschland (2%) sind für ca. 81 Prozent der Waffenexporte verantwortlich. Dieser Lieferumfang (25 Mrd. Dollar) übertrifft die summierten Rüstungsbudgets der Staaten, die von den USA als "Schurkenstaaten" bezeichnet werden: Irak, Iran, Syrien, Libyen und Nordkorea (ca. 15 Mrd. Dollar).
Allen Abrüstungserfolgen zum Trotz sind die vorhandenen Arsenale überschüssiger Waffen immer noch immens: Ca. 50.000 Nuklearsprengköpfe von den insgesamt 70.000 Atomsprengköpfen, die die USA und die Sowjetunion hergestellt haben, sollen zerlegt werden. Vertraglich ist bisher nicht geklärt, daß das waffenfähige Material in Rußland und den USA auf eine ökologisch vertretbare und proliferationsresistente Weise vernichtet wird. Mehr als 70.000 Tonnen Giftgas warten in beiden Ländern auf ihre Zerstörung mittels technisch neuer Verfahren, die teilweise erst entwickelt werden müssen. Wenn diese beispiellosen Mengen tatsächlich einmal vernichtet sein sollten, bleibt eine Vielzahl von Massenvernichtungswaffen übrig, die nicht rüstungskontrollpolitisch erfaßt sind.
Es wird geschätzt, daß Ende 1997 noch ca. 36.000 nukleare Sprengköpfe stationiert waren oder in Lagern bereitgehalten wurden. Sollte der START-I-Vertrag einmal umgesetzt worden sein, werden die USA und Rußland im Jahr 2007 immer noch jeweils 3.500 aktive Sprengköpfe stationiert haben bzw. genügend waffenfähiges Material für noch einmal dieselbe Menge besitzen. Dies wäre zehnmal so viel wie die "kleineren" Nuklearmächte China, Frankreich und Großbritannien heute zusammen besitzen. Ein Bruchteil dieses Arsenals genügt, um die wichtigsten Städte und Industriezonen dieser Erde zu zerstören. Zwar ist ein Nuklearschlag heute unwahrscheinlich, ein Einsatz "aus Versehen" oder ein "unautorisierter Angriff" bleibt jedoch jederzeit möglich.
Obwohl quantitativ und technologisch allen anderen politischen Partnern weit überlegen, hält die NATO noch ca. 150 US-amerikanische Nuklearwaffen in Europa bereit. Rußland hat seine taktischen Nuklearwaffen auf dem eigenen Territorium stationiert (ca. 3.900) oder hält sie in Lagern (ca. 12.000) verfügbar. Rußland und NATO halten am Ersteinsatz von Gefechtsfeld- atomwaffen fest. Der Abzug bzw. die irreversible Vernichtung dieser Atomsprengköpfe ist durch keinen Rüstungskontrollvertrag abgedeckt. Ein zuverlässiges und akzeptiertes Verfahren zur Zerstörung der überschüssigen Sprengköpfe und der waffenfähigen Materialien bei den nuklearen Mächten existiert bisher nicht. Angesichts der enormen Mengen, unterschiedlicher Lagerorte sowie unsicherer politischer und finanzieller Verhältnisse ist die langfristig sichere Aufbewahrung des militärischen Nuklearmaterials nicht gewährleistet. Besonders in Rußland, aber auch in anderen Kernwaffenstaaten sind Unfälle, Diebstahl oder andere kriminelle Delikte mit Nuklearmaterial weiterhin möglich.
Eine umfassende strategische Abrüstung, die die Arsenale Chinas, Frankreichs und Großbritanniens mit einbezieht, ist auch nach einem START-III-Abkommen (ca. 2.500 Sprengköpfe je Seite) noch nicht geplant. Die bevorstehende Einführung von Raketenabwehrsystemen durch die USA macht weitere strategische Abrüstung auch eher unwahrscheinlich. Die Gefahr, daß der ABM-Vertrag technologisch unterlaufen wird, ist gegeben. Die indischen und pakistanischen Nukleartests haben auf eindringliche Weise gezeigt, daß das nukleare Nichtverbreitungsregime lückenhaft ist.
Im Rahmen des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa wurden die fünf vertraglich erfaßten Kategorien von 290.000 Waffensystemen im Jahre 1988 auf weniger als 155.000 halbiert.
Obwohl dieses Rüstungsniveau das für eine hinreichende Verteidigung ausreichende Maß bei weitem übersteigt, ist der KSE-Vertrag einer der Eckpfeiler europäischer Stabilität und Sicherheit. Da das Block-zu-Block-Prinzip des 'alten' KSE-Vertrages von 1990 spätestens mit der unmittelbar bevorstehenden NATO-Erweiterung unhaltbar wird, verhandeln die 30 Vertragsstaaten seit dem 21. Januar 1997 über die Anpassung des Vertrages an die veränderte sicherheitspolitische Lage. Diese Verhandlungen sollen bis zum nächsten OSZE-Gipfeltreffen im November 1999 abgeschlossen werden.
Empfehlungen
Die "vollständige Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen" muß aber neben den nuklearen auch die biologischen und chemischen Waffen einschließen. In wichtigen Regionen, so im Mittleren Osten oder in Asien, verfügen zu viele Staaten über Kapazitäten und mögliche Arsenale. Die entsprechenden Verträge, das C-Waffenübereinkommen und das B-Waffenüber-einkommen, sollten zügig und unter Einbeziehung wirksamer Verifikationsverfahren ausgebaut werden. Staaten, die diesen Abkommen nicht beigetreten sind oder sich nicht an die üblichen Rüstungskontrollverpflichtungen halten, sollten dazu aufgefordert werden, den Regimen beizutreten bzw. ihre Rüstungskontrollverpflichtungen einzuhalten.
Die konkrete Schritte, die die neue Bundesregierung kurzfristig einleiten sollte, sind:
- Abzug aller Atomwaffen von dem Territorium der Staaten, die nicht darüber verfügen bzw. die Schaffung einer nuklearwaffenfreien Zone in diesen Ländern. Die irreversible Vernichtung der taktischen Nuklearwaffen sollte unter gegenseitiger Kontrolle stattfinden.
- Die Schaffung eines umfassenden europäischen Programmes zur Beseitigung von Rüstungsaltlasten und der Sicherung der Restbestände von Massenvernichtungswaffen. Die finanzielle wie organisatorische Abrüstungshilfe für die Russische Föderation sollte ausgebaut werden. Für die Sicherung weiterer Abrüstung ist die Unterstützung durch adäquate Konversionsprogramme unabdingbar.
- Bei der Anpassung des KSE-Vertrages muß größtmögliche Stabilität mit hinreichender militärischer Flexibilität derart kombiniert werden, daß tiefe Einschnitte bei den Obergrenzen und tatsächlichen Beständen möglich werden.
Mittel- bis längerfristig sollte als Ziel das völkerrechtliche Verbot des Einsatzes und der Herstellung von Massenvernichtungswaffen verfolgt werden.
11. Präventive Rüstungskontrolle
"Eine wesentliche Aufgabe sieht die neue Bundesregierung in der präventiven Rüstungskontrolle." (Kap. XI, Abschn. 6, Seite 46)
Lage
In den nächsten Jahrzehnten wird auf dem Gebiet der Kriegsführung ein starker Wandel hin zu High-Tech-Waffensystemen stattfinden. In den USA spricht man von einer "Revolution in Military Affairs". Nicht mehr das einzelne Waffensystem steht im Zentrum der Kriegsführung, sondern das Militär der Industriestaaten setzt aufgrund der Fortschritte bei den Informations- und Kommunikationstechnologien zunehmend auf "vernetzte Systeme". Information Operations, digitalisiertes Schlachtfeld und Cyber-Warfare sind hier die Schlagworte. Diese Entwicklung bildet ebenso eine neue Herausforderung für die internationale Rüstungskontrolle und Abrüstung wie absehbare wissenschaftlich-technische Entwicklungen im Bereich der biologischen, chemischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen, etwa "ethnische Waffen" oder miniaturisierte Atombomben. Neue Werkstoffe, Mikrotechnik und Nanotechnologie ergänzen das Waffenarsenal der Zukunft.
Ziel der präventiven Rüstungskontrolle ist es, technologische Rüstungswettläufe zu verhindern, die Weiterverbreitung neuer Waffentechnologien zu erschweren, neue militärische Optionen zu unterbinden und Kosten zu sparen. Zu diesem Zweck sollen Rüstungskontrollkriterien frühzeitig international anerkannt und in militärische Forschung, Entwicklung und Erprobung einbezogen werden.
Ansätze zu präventiver Rüstungskontrolle finden sich vor allem in Rüstungskontroll-abkommen, die sich auf Massenvernichtungswaffen beziehen. Künftige technologische Entwicklungen auf den Gebieten der biologischen, chemischen und nuklearen Waffen sollten in die vorhandenen Regime einbezogen werden. Das Verifikationsverfahren des B-Waffen-übereinkommens muß ausgebaut werden. Der ABM-Vertrag muß erhalten bleiben.
Empfehlungen
Voraussetzung für eine funktionierende präventive Rüstungskontrolle ist die Etablierung einer systematischen und umfassenden Rüstungstechnologiefolgenabschätzung (RTFA) auf nationaler Ebene. Die Bundesregierung könnte kurzfristig ein Netz von unabhängigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen mit dieser Aufgabe betrauen oder eine nationale Agentur aufbauen. In jedem Fall müßten praktikable und standardisierte Verfahren erarbeitet werden. Neue Waffenprinzipien, z.B. im Bereich nicht-letaler Waffen, sollten auf ihre Rüstungskontrollverträglichkeit hin untersucht werden. Neue Waffenprinzipien wie Mikrowellen, Hochenergielaser, elektromagnetische Kanonen eignen sich für präventive Verbotsregime, d.h. Regime, die Waffen vor ihrer Einführung verbieten. Das Laserwaffenprotokoll und die Landminenkonvention sollten ergänzt werden. Das komplexe Problem künftiger Rüstungstechnologien könnte auf der OSZE-Ebene im Rahmen von Seminaren diskutiert werden. Erste Transparenzmaßnahmen wie Laborbesuche, die Veröffentlichung von Budgetdaten zur militärischen Forschung und Entwicklung bzw. das Verbot bestimmter Waffen in einzelnen Regionen könnten eingeführt werden.
Mittelfristig könnte eine Rüstungskontrollagentur bei der OSZE aufgebaut werden. Das Personal sollte sich nicht nur um die Umsetzung, Verifikation und Verbesserung vorhandener Rüstungskontrollregime kümmern, sondern sich auch der Analyse von Rüstungstechnologien sowie der Einführung von Transparenzmaßnahmen widmen. Eine funktionierende, europäische Rüstungskontrollagentur wäre ein wichtiges Vorbild für andere Konfliktzonen der Erde, die noch am Anfang einer rüstungskontrollpolitischen Entwicklung stehen.
12. Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen
"Zur Umsetzung der Verpflichtung zur atomaren Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird sich die neue Bundesregierung ... für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen." (Kap. XI, Abschn. 6, Seite 46)
Lage
Massenvernichtungswaffen sind Geißeln der Menschheit. Fast alle Staaten der Erde haben deshalb den Atomwaffensperrvertrag von 1968 unterschrieben. Diejenigen Länder, die keine Atomwaffen besitzen, sind verpflichtet, auf deren Herstellung und Erwerb auch künftig zu verzichten. Im Gegenzug haben sich die Nuklearwaffenstaaten verpflichtet, ihre Arsenale abzurüsten. In einem Gutachten von 1996 hat der Internationale Gerichtshof, ein Hauptorgan der Vereinten Nationen, die Androhung oder Anwendung nuklearer Waffen als unvereinbar mit dem internationalen Recht erklärt. Lediglich unter extremen Bedingungen der Selbstverteidigung und wenn das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, sah sich der Gerichtshof außerstande, die Rechtmäßigkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes abschließend zu bewerten.
Im Gegensatz dazu behält sich das westliche Bündnis (genauer: die nuklearen Mitgliedstaaten) bis zum heutigen Tag vor, auf jedwede gewaltsame Verletzung ihrer Sicherheit mit dem Einsatz von Kernwaffen zu reagieren. In den Worten der Londoner Gipfelerklärung "Allianz im Wandel" vom Juli 1990 lautet die Doktrin: Nuklearwaffen würden "auch künftig eine wesentliche Rolle in der Gesamtstrategie des Bündnisses zur Kriegsverhütung spielen, indem sie sicherstellen, daß nie eine Lage entsteht, in der nicht mit nuklearer Vergeltung als Reaktion auf militärisches Vorgehen gerechnet werden müßte". Das derzeit gültige Strategiedokument der NATO, beschlossen im Oktober 1991 in Rom, wiederholt den Grundsatz sprachlich modifiziert, aber substantiell unverändert: "Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, indem sie dafür sorgen, daß ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden. Sie machen deutlich, daß ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige Option ist. "
Schon die Terminologie kennzeichnet die Doktrin als Produkt eines strategischen Denkens, über das die Zeit hinweggegangen ist. Die Androhung einer unverhältnismäßigen Vergeltung mit Massenvernichtungswaffen mochte unter dem Vorzeichen der Konfrontation nuklearer Supermächte im Interesse von Abschreckungsstabilität als rechtfertigungsfähig erscheinen. Die Überlegenheit der Warschauer Vertragsorganisation an konventioneller Rüstung war ein zusätzlicher Beweggrund auf westlicher Seite. Nach dem Fortfall dieser Konstellation hat sich die Einsatzdoktrin überlebt. Sie ist der internationalen Sicherheit, die auf politischer Berechenbarkeit, Vertrauensbildung und Angemessenheit der Mittelwahl beruht, abträglich.
Neuerdings wird nuklearen Waffen eine weitere Funktion zugeschrieben: Sie sollen Abschreckungswirkung gegenüber einem möglichen B- oder C-Waffeneinsatz entfalten. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang häufig auf den Golfkrieg von 1991, wo der Irak durch die atomare Drohung der USA vom Gebrauch von Massenvernichtungswaffen abgehalten worden sei. Zum einen ist ein solcher Zusammenhang nicht belegbar, zum anderen stünden für eine Aufgabe dieser Art eine Vielzahl konventioneller Verteidigungsmittel bereit, von diplomatischen und rüstungskontrollpolitischen Präventivmaßnahmen ganz abgesehen.
Das Hauptargument gegen die Beibehaltung der Ersteinsatzdoktrin lautet jedoch: Sie steht im direkten Gegensatz zum Nichtverbreitungsziel. Wie können Staaten, die über keine Nuklearwaffen verfügen, davon überzeugt werden, diese nicht zu benötigen, wenn Kernwaffenstaaten behaupten, zu ihrer eigenen Sicherheit nicht nur am Besitz dieser Waffen, sondern sogar an der Option des Ersteinsatzes festhalten zu müssen? Die Bundesrepublik handelt im Einklang sowohl mit den Geboten internationaler Sicherheit als auch mit ihrem Interesse als Nichtkernwaffenstaat, wenn sie den Ersteinsatzverzicht fordert.
Empfehlungen
Als eines von 16 souveränen Bündnismitgliedern kann Deutschland einen Bündnisbeschluß mittragen oder ablehnen. Es liegt folglich bei der Bundesregierung, ob die alte Nukleardoktrin der NATO auch in das neue Strategiedokument Eingang findet. Sie sollte sich dem sofort und ohne "Wenn und Aber" widersetzen. Auf den bereits geäußerten Unmut der transatlantischen Führungsmacht muß sie sich einstellen.
13. Abrüstung und Rüstungskontrolle - Kleinwaffen
"Die neue Bundesregierung ... wird eine Initiative zur Kontrolle und Begrenzung von Kleinwaffen ergreifen." (Kap. XI, Abschn. 6, Seite 46)
Lage
Die meisten bewaffneten Konflikte der Gegenwart werden mit sogenannten Kleinwaffen (automatische Pistolen und Gewehre, tragbare Lenkwaffen, Kleingeschütze u.a.) ausgefochten. Neunzig Prozent aller Opfer sind Zivilisten, zumeist Frauen und Kinder. Mit der massenhaften Verbreitung der Kleinwaffen ist die Hemmschwelle für ihren Einsatz gesunken. Zahlreiche entwicklungspolitische und humanitäre Projekte bleiben deswegen auf der Strecke. Auch wird die bei Kapitalverbrechen in entwickelten Ländern beobachtete Bereitwilligkeit, Tötungsrisiken einzugehen, offenbar durch Besitz und mühelosen Erwerb von Kleinwaffen begünstigt.
Im Unterschied zu den meisten Großwaffen existieren bei den Kleinwaffen weder ein Überblick über vorhandene Vorräte und Lieferströme noch Bestands- und Handelskontrollen. Im Gegenteil werden seit dem Ende des Kalten Krieges die weltweiten Märkte zusätzlich mit gebrauchten Waffen überschwemmt. Interessenten verfügen über einen Zugriff auf praktisch beliebige Mengen. Millionenfaches Vagabundieren von Kleinwaffen wird durch Freizügigkeit des Besitzes, mangelnde Transparenz oder Verbindlichkeit von Transferlizenzen, Korruption, kriminelle Geschäfte bei der Auflösung von Armeebeständen u.a. erleichtert. Die Gewinnung anderer Regierungen für internationale Vereinbarungen zur Kontrolle der Kleinwaffen ist deshalb nur ein erster Schritt. Notwendig sind darüber hinaus innerstaatliche Maßnahmen, trachten doch viele Besitzende, z.B. Bürgerkriegsparteien, danach, das Gewaltmonopol der Staaten zu unterlaufen. Kontrolle muß deshalb darauf bedacht sein, vor allem den illegalen Besitz zu unterbinden und zu erschweren.
Maßnahmen zur Kontrolle der Kleinwaffen werden gegenwärtig auf vier Ebenen (Vereinte Nationen, EU, Oslo-Konferenz, Aktionsbündnis nicht-staatlicher Organisationen) verfolgt. Die Bundesregierung hat die Chance, auf jeder von ihnen Initiativen zu ergreifen. Im August 1997 hat eine UN-Expertenkommission erste Empfehlungen vorgelegt, die auf verstärkten Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten der VN, die Einrichtung von Datenbanken, die bessere Überwachung von legalen Ein- und Ausfuhren, die Anpassung von Lizensierungs- und Kennzeichnungspflichten sowie einheitliche Verfahren strafrechtlicher Verfolgung illegalen Waffenbesitzes zielen. Mit dem von den Niederlanden angeregten "Programme for Preventing and Combating Illicit Trafficking in Conventional Arms" vom Juni 1997 existiert darüber hinaus eine politische Absichtserklärung der Mitgliedsländer der Europäischen Union zur Eindämmung illegaler Waffentransfers, nach der die Kontrolle und Reduzierung auch des Handels mit Kleinwaffen erreicht werden soll. Die vereinbarten Maßnahmen insbesondere zur Einsammlung, zum Rückkauf und zur Zerstörung von Kleinwaffen wären ein nützlicher Schritt, wenn sie nach einheitlichen Maßstäben durchgeführt werden.
Im Juli 1998 fand in Oslo eine Regierungskonferenz mit Vertretern aus 21 Ländern statt. Eine von Norwegen, Kanada und Belgien initiierte Erklärung, die auf verbindliche Regeln für den legalen Waffenhandel, die Bekämpfung illegaler Transfers und die Reduzierung der Waffenbestände in Konfliktgebieten zielte, fand jedoch keine Mehrheit, vor allem wegen der Weigerung einer Reihe von Staaten, darunter den USA, nationale Rechtsvorschriften zu ändern. Nach dem Vorbild der mit dem Friedensnobelpreis geehrten Kampagne zur Ächtung der Landminen wurde schließlich im August 1998 in Kanada ein breites Aktionsbündnis von nicht-staatlichen Organisationen zur Kontrolle der Kleinwaffen gegründet. Erklärtes Ziel sind die Verschärfung von Gesetzen über den Besitz von Kleinwaffen, die Verschärfung zollrechtlicher Vorschriften, vereinheitlichte Kriterien von Sanktionen und Strafverfolgung, die Erfassung und Kontrolle der vorhandenen Bestände, die Vereinbarung von Liefermoratorien, Waffenrückkauf- und Verschrottungsprogrammen sowie genauere Festlegungen zur Mandatierung von Entwaffnungsverfahren und die Verabschiedung eines global verbindlichen Verhaltenskodex im Umgang mit Kleinwaffen im Rahmen der Vereinten Nationen.
Empfehlungen
Die Bundesregierung sollte die im Juli 1998 vom stellvertretenden UN-Generalsekretär Dhanapala ergriffene Initiative zur Koordinierung aller UN-Aktivitäten zur Kontrolle der Kleinwaffen (CASA) mit Nachdruck unterstützen und aktiv an der im Mai 1998 eingesetzten neuen Expertengruppe zur Umsetzung dieser Vorschläge mitwirken.
Die Bundesregierung sollte ferner darauf drängen, daß der Transfer von Kleinwaffen aus dem Raum der Europäischen Union in Drittstaaten in den Exportrichtlinien aller Mitgliedsländer einheitlich restriktiven Vorgaben folgt und ebenso einheitliche Maßstäbe bei der Strafverfolgung illegaler Ein- und Ausfuhren zur Anwendung gelangen. Die Überführung der Kriterien des im Mai 1998 durch den Europäischen Rat angenommenen Verhaltenskodex zu Rüstungsexporten in geltendes Recht in allen Mitgliedsländern wäre dabei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Deutschland sollte die anstehende Doppelpräsidentschaft in der EU und WEU nutzen, um einen Rechtsrahmen zur Diskussion vorzulegen, dessen Ziel kurzfristig in der Einigung auf scharfe Sanktionen gegen illegale Ausfuhren besteht. Mittelfristig sollte der politische Verhaltenskodex in eine verbindliche Rechtsgrundlage für die Bewilligung oder den Verzicht auf legale Exporte in Drittstaaten verwandelt werden.
Schließlich sollte die Bundesregierung die jüngsten Vorschläge des Aktionsbündnisses nicht-staatlicher Organisationen aufgreifen und in die zwischenstaatlichen Konsultationen mit ihren Partnerstaaten einbeziehen. Die Bundesregierung könnte darüber hinaus, nicht zuletzt wegen der positiven Erfahrungen des Erfolgs der Landminenkampagne, durch besondere politisch-symbolische Gesten, wie den offiziellen Empfang von Vertretern, die Berücksichtigung ihrer Experten in der Politikberatung, die Veröffentlichung von unterstützenden Anzeigen, zur politischen und moralischen Stärkung des Bündnisses im Ausland beitragen.
14. Peacekeeping - "Standby Forces"
"Ein zunehmend wichtiger Bereich der Tätigkeit der Vereinten Nationen sind Missionen mit dem Ziel, den Frieden zu sichern. Den Vereinten Nationen werden eigenständige Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen (peacekeeping) als "standby forces" angeboten." (Kap. XI, Abschn.7, Seite 46)
Lage
Seit 1995 haben 80 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ihre Bereitschaft zur Teilnahme an sogenannten Standby Arrangements der Vereinten Nationen offiziell bekundet. Von diesen 80 Staaten haben wiederum 20 bilateral ein Memorandum of Understanding über ein Standby Arrangement mit den Vereinten Nationen abgeschlossen. Mittlerweile steht den Vereinten Nationen ein Personalpool von 104.300 Soldaten, zivilen Polizisten und anderen Experten zur Verfügung. Die tatsächliche Bereitstellung der einzelnen Länderkontingente für eine konkrete Mission erfolgt allerdings von Fall zu Fall auf freiwilliger Basis.
Das Konzept eines Standby Arrangement System (SAS) geht auf die vom damaligen Generalsekretär der UNO, Boutros Boutros-Ghali, 1992 veröffentlichte Agenda for Peace zurück. Ziel der Arrangements soll es sein, den Vereinten Nationen eine vorausschauende und praxisnahe Planung zukünftiger Friedensmissionen zu ermöglichen und damit die langen Anlaufzeiten der bisherigen, ad hoc zusammengestellten Missionen stark zu verkürzen. Daher erfolgen die Planungen neuer Peacekeeping-Missionen der Vereinten Nationen unter Rückgriff auf die Standby Arrangements im 1992 gegründeten Department of Peacekeeping Operations (DPKO). Bewährt hat sich dieses Planungskonzept bei der Zusammenstellung der Peacekeeping-Missionen für Haiti (UNMIH) und Ostslawonien (UNTAES). Beide konnten unmittelbar nach Mandatsbeschluß des Sicherheitsrates entsandt werden.
Mit dem Ziel einer effektiveren Planung und schnelleren Entsendung von Peacekeeping-Missionen wurde auf eine dänische Initiative hin ein Planungsstab für eine Standby High Readiness Brigade (SHIRBRIG) ins Leben gerufen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan stellte im September 1997 diesen SHIRBRIG-Planungsstab offiziell in Kopenhagen in Dienst.
Empfehlungen
Im SAS-Pool bestehen große personelle Defizite in den Bereichen Kommunikation, Logistik (multi-purpose), Transport, Medizinische Unterstützung, Kampfmittelbeseitigung und Taktischer Lufttransport. Das deutsche Standby-Kontingent sollte zur Verringerung dieser Defizite beitragen. Erste Schritte dazu wurden bereits im Juni 1998 im Rahmen eines Memorandums mit den Vereinten Nationen getan. Deutschland gab die Zusage für folgende zivile Standby Kontingente:
- ein Medical Start-up Kit des Malteser Hilfsdienstes Köln, dem zehn zivile Ärzte und Sanitäter angehören,
- zwei zivile Minenräumteams à fünf Mann einer deutschen Privatfirma,
- zwei Post-Traumata-Behandlungsteams, denen zivile Psychologen und Geistliche angehören.
Zu prüfen ist, welche der folgenden Kontingenttypen für Blauhelm-Verwendungen die Bundesrepublik über die zivile Komponente hinaus anbieten kann: Hauptquartierseinheiten, Nachschubeinheiten, Fernmeldeeinheiten, Pioniereinheiten, ABC-Abwehrtruppen (zur Trinkwasseraufbereitung), Sanitäts- und MedEvac-Einheiten mit einem transportablem Feldlazarett und Modulen für ein Akutkrankenhaus sowie Heeresfliegereinheiten mit Transporthubschraubern; Lufttransporteinheiten und Luftaufklärungseinheiten der Luftwaffe mit Flugzeugen und Drohnen; Transporteinheiten der Marine mit Schiffen, Minenabwehreinheiten mit Minensuchbooten und Marinefliegereinheiten mit Patrouillenflugzeugen. Bedarf besteht außerdem an Bombenräumexperten und Militärbeobachtern. Ein deutscher Beitrag an Polizeikräften zur Verstärkung der 1.400 Standby-Polizisten der Vereinten Nationen, die derzeit alle in Haiti oder Bosnien-Herzegowina eingesetzt sind, wäre ebenfalls wünschenswert. Die Entsendungs-Reaktionszeit sollte nicht mehr als eine Woche für Einzelpersonen und 15 Tage für eine ganze Einheit betragen. 30 Tage nach Anforderung durch die Vereinten Nationen sollten alle Truppen entsandt sein.
Die Bereitstellung deutscher Standby-Kontingente sollte an folgende Bedingungen geknüpft sein:
Deutsche Blauhelme sollten zusätzlich der SHIRBRIG zugeordnet werden. Die SHIRBRIG, in der bereits Dänemark, Kanada, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen und Schweden vertreten sind, wird voraussichtlich im Jahre 2000 voll einsatzbereit sein. Da in der SHIRBRIG eine klare Aufgaben- und Lastenverteilung zwischen den teilnehmenden Staaten geregelt ist, wäre ein klares Anforderungsprofil an deutsche Blauhelm-Kontingente leicht zu erhalten. Dies würde zum einen die Planung eines deutschen Standby-Beitrages erleichtern und gäbe der Bundesregierung auch Sicherheit bezüglich der künftigen Verwendung deutscher Blauhelme und deutscher Ausrüstung.
Mittel- bis langfristig sollte Deutschland im Rahmen des SAS auch stärker bewaffnete Blauhelme bereitstellen, die für die Durchführung von "robustem" Peacekeeping geeignet sind. Des weiteren ist die Reform der bisher üblichen Entsendemodalitäten ins Auge zu fassen. Auf Dauer sollten die truppenstellenden Regierungen über den Einsatz der im SAS bereitgestellten Blauhelme nicht mehr von Fall zu Fall entscheiden können. Die Entsendung sollte vielmehr - wie Boutros-Ghali es 1995 im Supplement to An Agenda for Peace forderte - automatisch und verbindlich erfolgen
15. Das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen
"Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren ..." (Kap. XI, Abschn. 7, Seite 46)
Lage
Spätestens seit Gründung der Vereinten Nationen ist Gewalt als Mittel der internationalen Politik verboten und die Führung von Kriegen untersagt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland trägt dieser Rechtslage Rechnung, indem es in Artikel 26 bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges für verfassungswidrig erklärt und unter Strafe stellt.
Kommt es trotz der völker- und verfassungsrechtlichen Verbote zur Androhung oder Anwendung von Gewalt, so liegt nach Artikel 24 der UN-Charta die "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Mitglieder der Vereinten Nationen "erkennen an, daß der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung der sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten in ihrem Namen handelt". Nach Artikel 39 der UN-Charta stellt der Sicherheitsrat fest, "ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens vorliegt", gibt Empfehlungen ab oder beschließt nach Artikel 40 ff. diejenigen Maßnahmen, "die zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen". Das können je nach Erfordernis nichtmilitärische oder militärische Maßnahmen sein.
Das Völkerrecht errichtet also ein absolutes Gewalt- und Kriegsverbot. Eine Ausnahme von diesem Verbot bilden Maßnahmen, die der Sicherheitsrat entsprechend der angeführten Normen des Kapitels VII der UN-Charta beschließt oder zu denen er eine Ermächtigung erteilt. Selbst die in Artikel 51 der UN-Charta geschaffene weitere Ausnahme des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung "im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen" wird lediglich gewährt, "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat".
Weitere Ausnahmen vom völkerrechtlichen Gewaltverbot gibt es nicht. Dies gilt nach einhelliger Völkerrechtslehre auch für Interventionen mit vermeintlich oder tatsächlich humanitärer Zielsetzung. Selbst die Völkermordkonvention von 1948 enthält keine Eingriffsbefugnis für Drittstaaten im Fall des Völkermordes. Deshalb haben bis in die jüngste Vergangenheit zu Recht alle Staaten bei Eingriffen in Konflikte, die Merkmale des Völkermordes aufwiesen (Nordirak, Bosnien, Ruanda), eine ausdrückliche Ermächtigung des Sicherheitsrates für notwendig gehalten. Mit anderen Worten: Das völkerrechtliche Gewaltmonopol liegt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Bedauerlicherweise kam die neue Bundesregierung nicht umhin, gegen das Gewaltmonopol der UN-Charta schon zu verstoßen, ehe sie überhaupt ihr Amt antreten konnte. Noch der alte Bundestag mußte sich in seiner 248. und letzten Sitzung am 16. Oktober 1998 mit dem Antrag der gerade abgewählten Regierung befassen, die Bundeswehr am geplanten Militäreinsatz der NATO gegen Jugoslawien zu beteiligen. Nicht zuletzt politischer Druck aus Bonn, die Drohspirale in der Kosovo-Krise beständig anzuziehen, hatte das Bündnis unter Zugzwang gesetzt.
Die parlamentarische Beratung fand am Tag vor Ablauf des NATO-Ultimatums statt, das der zwischen dem amerikanischen Gesandten Holbrooke und dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic kurz zuvor getroffenen Übereinkunft zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo Nachdruck verleihen sollte. Die Bundesrepublik gehört dem westlichen Bündnis an. Die Zustimmung der übrigen Mitgliedstaaten zu Luftschlägen lag bereits vor. Vom deutschen Votum hing es nunmehr ab, ob die Androhung militärischer Zwangsmittel der Einstimmigkeitsregel im NATO-Rat entsprechen würde. Möglicherweise konnte erst die so bewirkte Glaubwürdigkeit der Drohung den Militäreinsatz selbst gegenstandslos werden lassen. In dieser Situation stimmten 500 Abgeordnete der Kabinettsvorlage zu, darunter mehrheitlich die Fraktionen der sich gerade bildenden neuen Regierungskoalition. Nichtsdestotrotz entbehrte der Beschluß sowohl der NATO wie des Bundestages der völkerrechtlichen Grundlage. Eine Resolution des Sicherheitsrats, die ein militärisches Einschreiten Dritter zu einer zulässigen Sicherheitsmaßnahme im Auftrag der Vereinten Nationen gemacht hätte, lag nicht vor. Ebensowenig hatte die Bundesrepublik Jugoslawien der NATO Anlaß gegeben, Vorkehrungen kollektiver Selbstverteidigung zu treffen. Ohne die eine oder die andere Legitimation im Völkerrecht wäre ein gewaltsames Vorgehen, zu dem es dann letztlich nicht kam, als Angriffshandlung zu qualifizieren gewesen.
Vertreter der alten wie der neuen Bundesregierung waren sich der Problematik des Bundestagsbeschlusses durchaus bewußt. So erklärte der noch amtierende Außenminister Kinkel in der Debatte am 16. Oktober: "Mit ihrem Beschluß hat die NATO kein neues Rechtsinstrument geschaffen und auch nicht schaffen wollen, das eine Generalvollmacht der NATO für Interventionen begründen könnte. Der Beschluß der NATO darf nicht zum Präzedenzfall werden. Wir dürfen nicht auf eine schiefe Bahn kommen, was das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates anbelangt." Sowohl dessen Nachfolger Fischer als auch der designierte Bundeskanzler Schröder stimmten dem nachdrücklich zu.
Damit haben die verantwortlichen Sprecher der neuen Regierung unzweideutig klargestellt, welches Ziel sie in der Frage der Mandatierung friedenssichernder Einsätze der Bundeswehr verfolgen: Das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen soll ausdrücklich nicht unterhöhlt werden. Das gegenteilige Abstimmungsverhalten im Bundestag am 16. Oktober wird als Ausnahmehandlung in einer Notsituation und nicht als Präzedenzfall gewertet. Was ein Präzedenzfall ist, bestimmen jedoch weniger diejenigen, die ihn schaffen, als diejenigen, die sich später darauf berufen. Deshalb muß die Koalition ihren Willensbekundungen jetzt politische Initiativen folgen lassen.
Empfehlungen
Jahrhunderte verfassungspolitischer Anstrengung haben der westlichen Welt den Rechtsstaat beschert. Er schützt den Bürger vor despotischer Herrschaft. Dasselbe Ziel verfolgt auf internationaler Ebene das Völkerrecht. Es ist ein ebenso kostbares Gut und verdient denselben Respekt. Wo es unzulänglich ist und Mängel aufweist, muß es verbessert werden. Die Abschaffung wäre die schlechteste Alternative.
Als kurzfristig dringendstes Erfordernis, das keinen Aufschub duldet, stellt sich der Bundesregierung die Aufgabe, den Alliierten den deutschen Standpunkt zu erläutern. Schon in wenigen Monaten, im Frühjahr 1999, will die NATO ihr neues Strategie-Dokument beschließen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß einige Verbündete der Bundesrepublik, voran die USA, dafür eintreten, dann als Regel festzuschreiben, was die Kosovo-Entscheidung noch als Ausnahme erscheinen ließ: die Selbstmandatierung der Allianz zum Waffengebrauch nach eigenem Ermessen. Will die Bundesregierung diesen völkerrechtswidrigen Weg nicht mitgehen, muß sie ihre Haltung sofort verdeutlichen, ehe sie erneut in eine Zwangslage gerät, die sie nötigt, wider bessere Einsicht zu handeln.
Grundsätzlich ist darauf hinzuwirken, daß die westlichen Gesellschaften unter sich die Kriterien klären, nach denen sie innerstaatliche Konflikte bewerten. Solange ein undefiniertes Freund-Feind-Schema bestimmt, ob ein bewaffneter Aufstand gegen repressive Herrschaft als Freiheitskampf oder als Terrorismus gilt, wird die Politik nach zweierlei Maß verfahren. Was unterscheidet z. B. die serbische von der türkischen Minderheitenpolitik, die Albaner im Kosovo von den Kurden in Ostanatolien, die UCK von der PKK? So mißt sich die Regierung in Ankara das Recht zu, innenpolitische Gegner auch außerhalb ihrer Landesgrenzen zu verfolgen. Gewohnheitsmäßig operiert sie mit regulären Streitkräften auf dem Territorium eines Nachbarstaates, ohne politische Sanktionen oder militärische Drohungen befürchten zu müssen. Die Glaubwürdigkeit westlicher Politik, die deutsche eingeschlossen, nimmt Schaden, wenn sich der Eindruck verfestigt, ein Unterdrückerstaat müsse der NATO angehören, um straflos davonzukommen.
Unbestreitbar braucht der Schutz der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Leben und physische Unversehrtheit weltweit mehr Durchschlagskraft. Der Weg dorthin führt mittelfristig über verbindlichere Kodifikationen und wirksamere Instrumente. Die Bundesrepublik verfügt über Ansehen und Einfluß, die sie geltend machen kann, um dieses Anliegen - die sicherste Gewähr gegen unkontrollierte Kriegsgewalt - auf den Ebenen der Normenbildung und Rechtsumsetzung zu befördern.
16. Reform der Vereinten Nationen
"Die Vereinten Nationen sind die wichtigste Ebene zur Lösung globaler Probleme. Deshalb sieht es die neue Bundesregierung als besondere Aufgabe an, sie politisch und finanziell zu stärken, sie zu reformieren und zu einer handlungsfähigen Instanz für die Lösung internationaler Probleme auszubauen. In diesem Sinne ergreift sie Initiativen, um die Kompetenz und Mittelausstattung der Vereinten Nationen zu verbessern ... Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, ... die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu stärken ... Deutschland wird die Möglichkeit nutzen, ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu werden, wenn die Reform des Sicherheitsrates unter dem Gesichtspunkt größerer regionaler Ausgewogenheit abgeschlossen ist ..." (Kap. XI, Abschn. 7, Seite 46)
Lage
Das System der Vereinten Nationen weist eine Reihe von Defiziten auf, die unbedingt behoben werden müssen, soll die Organisation ihrer Aufgabe, die weltweite Herrschaft des Rechts zu garantieren, auch nur annähernd gerecht werden können:
Der Generalsekretär bzw. das Sekretariat als nicht aus weisungsgebundenen Staatenvertretern zusammengesetzte, sondern nur der Organisation selbst verpflichtete Instanz wurde bislang eher mit administrativen denn politisch-operativen Kompetenzen ausgestattet. Das Ansehen und Vertrauen, das der Generalsekretär in der Staatenwelt genießt, verdankt er aber eben der Tatsache, daß ihm aufgrund seiner Unabhängigkeit von einzelstaatlichen Instruktionen nicht unterstellt werden kann, Partikularinteressen zu verfolgen. Er repräsentiert somit in mustergültiger Weise das übergreifende Gemeininteresse der UNO-Mitglieder wie das unitarische Prinzip der Organisation. Politische Bedeutung und operativ-politische Kompetenzen der Institution stehen daher in keinem angemessenen Verhältnis zueinander.
Die Debatte über eine Erweiterung des Sicherheitsrats, die seine globale Repräsentativität verbessern und den politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte Rechnung tragen würde, dauert an. Neben Deutschland und Japan könnten voraussichtlich je eine Macht aus Asien, Afrika und Lateinamerika als neue ständige Mitglieder in den Rat einziehen, ob mit oder ohne Vetorecht. Parallel wird gelegentlich eine Aufstockung der Zahl der rotierenden Mitglieder auf 13 vorgeschlagen. Das Gremium würde damit auf 20 bis 23 Akteure anwachsen, womit sich allerdings die Frage nach der Grenze seiner Funktionsfähigkeit stellt. Bedeutsamer als diese Reformmaßnahme wäre jedoch die Eliminierung des notorisch dysfunktionalen Vetorechts, dessen Nutzung es schon einer einzigen Macht gestattet, die Arbeit dieses Gremiums lahmzulegen und das weltweite Vertrauen in die Effizienz der Organisation nachhaltig zu erschüttern. Die sicherheitspolitischen Folgen sind bekannt: Rückgriff auf nationale Lösungen via Aufrüstung bzw. Abschluß von Militärbündnissen, Strategien, die die Idee der kollektiven Sicherheit konterkarieren.
Die Finanzmisere der UNO ist chronischer Natur. Mitgliedstaaten können ihre Beiträge wegen eigener finanzieller Probleme nicht oder nicht termingerecht aufbringen bzw. zeigen mangelnden Willen, allen voran die USA als bedeutendster Geldgeber (Zahlungsdefizit 1,3 Mrd. USD). Abhilfe ist hier dringend geboten.
Der in der Koalitionsvereinbarung nicht eigens angesprochene Internationale Gerichtshof (IGH), ein Hauptorgan der Vereinten Nationen, kann seine potentielle Wirksamkeit insbesondere deshalb nicht entfalten, weil die Mehrzahl der UNO-Mitgliedstaaten, obwohl mit der Aufnahme in die Organisation automatisch dem Statut beigetreten, sich weigert, seine obligatorische Zuständigkeit anzuerkennen und sich nur von Fall zu Fall (wenn überhaupt) vor seine Schranken ziehen läßt. Lediglich 60 Staaten haben derzeit von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, gemäß der Fakultativklausel (Art. 36 IGH-Statut) seine obligatorische Gerichtsbarkeit zu akzeptieren, und dies häufig nur mit Vorbehalten. Die Bundesrepublik Deutschland gehört bis heute nicht zu dieser Gruppe.
Empfehlungen
Kurzfristig sollte sich die Bundesregierung für die folgenden Ziele einsetzen: Die politische Rolle des Generalsekretärs ist weiter aufzuwerten und die Effizienz des Sekretariats zu erhöhen. Dazu gehört der Ausbau der Frühwarnkompetenzen und -kapazitäten, der Präventivdiplomatie und der Präventivstationierung von Friedenstruppen in oder in der Nähe der globalen "hot spots". Zu den erforderlichen "Standby Forces" zu Peacekeeping-Zwecken sollte ein stets verfügbarer und schnell verlegbarer Kampfverband in Divisionsstärke aufgestellt werden, der sich für völkerrechtskonforme Friedenserzwingungseinsätze und bewaffnete humanitäre Interventionen eignet, und - wenn schon nicht regulären Armeen - irregulären bewaffneten Banden gewachsen ist. Diese Eingreiftruppe sollte von der UNO selbst aufgestellt, ausgerüstet und unterhalten werden, um jeder Abhängigkeit vom guten Willen oder der spezifischen Interessenlage der Mitgliedstaaten vorzubeugen. Die operative Leitung der Truppe übernimmt der Generalsekretär analog seiner Kommandofunktion im Rahmen des UNOSOM II-Kampf-einsatzes, ein Präzedenzfall, der den empirischen Realitätsgehalt der Forderung nach der angesprochenen Kompetenzausstattung des Generalsekretärs beweist.
Um das Vetoproblem im Sicherheitsrat zumindest nicht zu verschärfen, sollte die Bundesregierung im Hinblick auf die Aufnahme in dieses Gremium ihren kategorischen Verzicht auf den Gebrauch des Vetorechts erklären und somit auch in diesem Kontext eine Vorbildfunktion ausüben.
Zur Beseitigung oder doch Linderung der Finanzmisere der Vereinten Nationen sollte sich die Bundesregierung für die folgenden Optionen einsetzen, die durchaus komplementär zu sehen sind:
Die Bundesregierung sollte unverzüglich einen jederzeit abrufbaren Betrag für den Kreditfonds bereitstellen, dessen Höhe ihrer weltpolitischen Rolle angemessen sein müßte.
Da Deutschland sich der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH bislang nicht unterworfen hat, sollte dieser Akt unverzüglich nachgeholt werden, wenn möglich, sogar unter Verzicht auf die Reziprozitätsklausel.
Mittelfristig sollte die Bundesregierung mit ihrem ganzen Gewicht auf die Realisierung der folgenden Reformen hinwirken:
Für die Eliminierung oder zumindest Entschärfung des notorisch dysfunktionalen Vetorechts bietet sich (neben der schlichten Abschaffung) das Engagement für eine der folgenden Varianten an, die trotz realpolitisch induzierter Rücksichtnahme auf staatliche Machtinteressen dem Desiderat der Effektivierung dienlich sein könnten:
Zur Aufwertung und Effektivierung der Rechtsprechungstätigkeit des IGH bieten sich folgende Reformoptionen an, für die sich die Bundesregierung einsetzen sollte: Erstens die Globalisierung seiner obligatorischen Zuständigkeit, die einem Zeitalter der Globalisierung nur angemessen wäre, per entsprechender Änderung seines Statuts (dem alle UN-Mitglieder beigetreten sind) oder Verpflichtung der Staaten zur Abgabe entsprechender Erklärungen hinsichtlich der Fakultativklausel oder via globalem Vertrag des erforderlichen Inhalts analog den regionalen Abkommen des panamerikanischen Bogotá-Pakts bzw. des "Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten". Zweitens die Ergänzung der IGH-Gerichtsbarkeit durch die Errichtung eines Weltgerichtshofs für Menschenrechte anhand des Modells des regional begrenzten Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs. Ein Pendant zur Europäischen Menschenrechtskonvention (das u.U. aufzubessern wäre) liegt in Form der globalen Menschenrechtspakte bereits vor, womit die Normierung von Rechten und Pflichten als Grundlage der Rechtsprechung vorhanden wäre. Die prinzipielle Entscheidung für die Einrichtung eines globalen Internationalen Strafgerichtshofs ist vor kurzem bereits gefallen. Somit wären zumindest die Kernbereiche obligatorischer und verbindlicher globaler Rechtsprechung abgedeckt.
Es ist evident, daß die Durchsetzung solcher Regelungen nicht in der Macht der Bundesregierung liegt. Sie sollte aber ihr ganzes politisches Gewicht dafür in die Waagschale werfen, um ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden.
17. Bundeswehr/Wehrstrukturkommission/Wehrpflicht
"Die Bundeswehr dient der Stabilität und dem Frieden in Europa ... Eine vom Bundesminister der Verteidigung für die neue Bundesregierung zu berufende Wehrstrukturkommission wird auf der Grundlage einer aktualisierten Bedrohungsanalyse und eines erweiterten Sicherheitsbegriffs Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte überprüfen und Optionen einer zukünftigen Bundeswehrstruktur bis zur Mitte der Legislaturperiode vorlegen. Vor Abschluß der Arbeit der Wehrstrukturkommission werden unbeschadet des allgemeinen Haushaltsvorbehalts keine Sach- und Haushaltsentscheidung getroffen, die die zu untersuchenden Bereiche wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen." (Kap. XI, Abschn. 9, Seite 47)
Lage
Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sind überall in Europa die Konsequenzen erörtert worden, die sich aus der veränderten sicherheitspolitischen Lage ergeben. Eine Reihe der unmittelbaren Nachbarn Deutschlands hat mittlerweile im Zuge dieser Diskussionen und Überlegungen ihre militärischen Streitkräfte verringert und die Wehrpflicht abgeschafft bzw. ausgesetzt.
Auch Deutschland ist nach dem Ende des Abschreckungssystems nicht mehr unmittelbar bedroht. Das Land ist nicht länger "Frontstaat", ist vielmehr nur noch von Verbündeten und befreundeten Partnern umgeben. Gleichwohl besitzt Deutschland immer noch einen Militärhaushalt von ca. DM 48 Milliarden, hat die Bundeswehr einen Umfang von über 300.000 Soldaten, liegt der Schwerpunkt der Streitkräfteausrichtung auf der territorialen Landesverteidigung und belastet das Land schließlich noch immer die jungen Bürger mit der Wehrpflicht.
Sicherheitspolitik ist ein politischer Gestaltungsbereich, in dem die unbekannten Risiken und Gefahren von morgen durch die Vorsorge und Prävention von heute entscheidend gemindert, wenn nicht sogar abgewendet werden können. Antworten auf verteidigungspolitische Fragen muß deshalb grundsätzlich ein breiter Ermessens- und Entscheidungsspielraum zugestanden werden. In einer Demokratie müssen aber Verteidigungsfähigkeit und Verteidigungsmaßnahmen gleichwohl auf die Basis von Lage-Analysen (früher Bedrohungsanalysen) gestellt werden - Lage-Analysen, die militärisch und wissenschaftlich haltbar sind, die politische Transparenz erzeugen und die im Optimalfall sogar öffentlich diskutiert und ggf. revidiert werden. Nicht akzeptabel war deshalb der radikale Bruch des bisherigen Verteidigungsministers mit der demokratischen Übung aller seiner Vorgänger im Amt. Rühe sah "Verteidigungs-fähigkeit" als eine "lageunabhängige Konstante" an und glaubte, Verteidigungspolitik, den Umfang der Bundeswehr, ihre Ausrüstung und auch die Fortführung der Wehrpflicht nicht begründen und auch nicht diskutieren zu müssen - zum Nachteil der Wehrpflichtigen, auf Kosten der Steuerzahler und nicht zuletzt zu Lasten einer in sich gespaltenen Bundeswehr, die zunehmend falsch ausgebildet und ausgerüstet erscheint.
Empfehlungen
Mit der Bildung der neuen Bundesregierung bietet sich die Chance, wieder zu einer der Demokratie und der Verfassung gemäßen politischen Kultur auch in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen zurückzukehren. Zu den ersten Schritten, die der neue Verteidigungsminister in diese Richtung unternommen hat, gehören u.a. der Auftrag an den Generalinspekteur, eine Studie über den Zustand der Bundeswehr und ihre Stärken und Schwächen erarbeiten zu lassen, ferner das nachdrückliche Bekenntnis des Ministers zur "Inneren Führung" und schließlich die Ankündigung, im Frühjahr 1999 eine Wehrstrukturkommission (Kommission zur Zukunft der Bundeswehr) unter Einschluß von Vertretern und Vertreterinnen gesellschaftlich relevanter Gruppierungen einzurichten. Allerdings sollen die Ergebnisse der Kommission erst zur Mitte der Legislaturperiode (vermutlich sogar erst später) vorliegen und bis dahin keine "Sach- und Haushaltsentscheidungen getroffen" werden.
Angesichts der aktuellen Finanzlage einerseits und der Überfälligkeit der Diskussion und des daraus folgenden Entscheidungsbedarfs andererseits ist der Bundesregierung bzw. dem Bundesverteidigungsminister dringend zu empfehlen, die Frist für die Arbeit der Wehrstrukturkommission nach Möglichkeit auf ein Jahr zu begrenzen. Bis die Arbeit der Kommission beendet ist, kann ferner ein Moratorium eingeführt werden. Dieses Moratorium kann sich sowohl auf den Umfang der Wehrpflicht beziehen als auch einzelne Aspekte offensichtlich falscher Rüstungsentscheidungen erfassen. (Beispiele: Grundwehrdienstleistende, die eingeschränkt tauglich, in Ausbildung oder über 25 Jahre alt sind, werden nicht eingezogen. Die Beschaffung schweren Geräts wie Panzer oder Haubitzen wird ausgesetzt bzw. nicht weiter verfolgt.) Schließlich können kurzfristig auch Maßnahmen eingeführt bzw. umgesetzt werden, die sich aus der Logik der "Inneren Führung" und dem Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" sowie den Notwendigkeiten der wissenschaftlich-technologischen Welt ergeben. Hierzu gehören die zeitgerechte Modernisierung der Ausbildung der Soldaten, insbesondere an den Universitäten der Bundeswehr, die Stärkung des wissenschaftlichen Charakters der Führungsakademie als postuniversitäre Einrichtung sowie nicht zuletzt die Bekämpfung möglicher rechtsextremistischer Tendenzen in den Streitkräften.
Empfehlungen mittelfristiger Natur müssen sich aus der Arbeit der Zukunftskommission/Wehrstrukturkommission ergeben. Dem Bundesminister ist aber grundsätzlich zu raten, den Zustand der Bundeswehr offenzulegen und den erheblichen Reformstau der Streitkräfte aus personeller Schieflage, möglicher Unterfinanzierung, verpaßter Technologieentwicklung und verlotterter Innerer Führung nicht weiter zu beschönigen. Er muß ferner in den kommenden Monaten dem Zustand der Bundeswehr die Bedrohungen, Gefahren und Risiken gegenüberstellen - und zwar öffentlich -, die sich jetzt oder in absehbarer Zukunft gegen Deutschland richten können und die militärisch ausbalancierbar sind. Er muß drittens die Größendimension der zu erwartenden Herausforderungen umreißen und auch Aussagen über ihre Eintrittswahrscheinlichkeit treffen. Viertens muß er in seine Lagebeurteilung einbeziehen, daß es sich bei den ggf. identifizierten Herausforderungen eben nicht um Bedrohungen, Gefahren, Risiken handelt, die sich gegen Deutschland allein richten, sondern gegen Deutschland als Mitglied der Bündnisse NATO und WEU. Fünftens schließlich wird die neue Bundesregierung demokratisch klären und öffentlich aussprechen müssen, ob und in wievielen der zum Beispiel vom vormaligen Bundesminister der Verteidigung immer wieder angeführten "Kriseneinsätze" sich Deutschland mit wievielen Soldaten tatsächlich engagieren soll oder will. Unklar ist bis heute, ob die vormalige Bundesregierung den Einsatz der Bundeswehr auf nur einem, auf zwei oder auf drei oder auf noch mehr der zahlreichen Kriegsschauplätze gleichzeitig wollte. Im demokratischen Deutschland müssen Umfang, Struktur, Ausrüstung und Rekrutierung der Bundeswehr klaren, transparenten Kriterien entsprechen. Ein demokratischer Staat kann keine anderen Streitkräfte unterhalten als diejenigen, die er für seine verfassungsgemäßen Zwecke tatsächlich benötigt.
18. Rüstungsexporte
"Der nationale deutsche Rüstungsexport außerhalb der NATO und der EU wird restriktiv gehandhabt. Bei Rüstungsexportentscheidungen wird der Menschenrechtsstatus möglicher Empfängerländer als zusätzliches Entscheidungskriterium eingeführt. Die neue Bundesregierung wird jährlich dem Deutschen Bundestag einen Rüstungsexportbericht vorlegen."(Kap. XI, Abschn. 9, Seite 47)
Lage
Der Anteil deutscher Rüstungstransfers am weltweiten Waffenhandel hat sich seit 1994 verringert und liegt gegenwärtig noch bei etwa zwei Prozent. Die allerdings nur halbherzigen Bemühungen der abgewählten Bundesregierung, seit langem restriktive nationale Standards der Bundesrepublik zur Kontrolle von Rüstungsexporten in geltendes EU-Recht zu überführen, sind am Widerstand wichtiger Partnerländer gescheitert. Statt dessen hat die Harmonisierung des EU-Rechts zu einer allmählichen Verwässerung auch der deutschen Kontrollstandards geführt. Die Gefahr ist akut, daß - selbst bei fortwährend restriktiver Handhabung nationaler Exporte in Drittstaaten - über den "Umweg" der Europäischen Union deutsche wehrtechnische Zulieferungen und Dienstleistungen künftig auch in Krisengebiete gelangen. Immerhin beträgt der prozentuale Anteil der EU am weltweiten Waffenhandel - bei zunehmender Tendenz - gegenwärtig bereits ein Drittel.
Da die Grundregel der Exportpolitik der EU darin besteht, daß sie die Umsetzung des gemeinsamen Kontrollansinnens dem Ermessen der Mitgliedstaaten überläßt, hängt es von jedem einzelnen Mitglied ab, ob engere oder weiter gesteckte Grenzen der Genehmigungspraxis gezogen werden. Die Kohl-Regierung hat jedoch mit der Novellierung der Exportrichtlinien im April 1996 die Grenzen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationaler Genehmigungspraxis unnötig verwischt und allein nach Maßgabe wirtschaftlicher Erwägungen auch nationale Lieferungen in Drittländer erleichtert.
Empfehlungen
Kurzfristig sind die angekündigte Aufwertung des Bundessicherheitsrates und die Beachtung des Menschenrechtsstatus möglicher Empfängerländer wichtige Schritte zur Korrektur früherer Entscheidungen. Die zügige Überarbeitung der Exportrichtlinien muß folgen. Vor allem sind die Grenzen von Genehmigungsspielräumen für alle Beteiligten kenntlich zu machen.
Die nationale Ausfuhr von Rüstungsgütern, einschließlich Zulieferungen und Dienstleistungen, in Drittstaaten außerhalb von EU und NATO sollte prinzipiell untersagt werden, solange die Bundesregierung, nach Abstimmung im Bundessicherheitsrat, an sie gerichtete Anfragen auf Erteilung von entsprechenden Exportlizenzen nicht positiv beschieden hat. Die Vorlage von Endverbleibszertifikaten durch die Antragsteller wird zur Genehmigungsvoraussetzung erklärt. In Stärkung einer parteienübergreifenden Verantwortung für die Exportkontrolle könnte der parlamentarischen Kontrollkommission des Bundestages ein Vetorecht gegen Rüstungsexporte eingeräumt werden. Verstöße gegen die Exportrichtlinien sind wirkungsvoller als bisher mit den Mitteln des Strafrechts zu ahnden. Hierzu ist § 80 StGB entsprechend zu ergänzen.
Der von der Regierungskoalition vorgesehene jährliche Rüstungsexportbericht der Bundesregierung sollte statistische Angaben über Umfang und Wertvolumen auch zu Waffen- und Waffenbestandteilen beinhalten, die bisher nicht im UN-Melderegister erfaßt sind, sowie die Anwendung der Kontroll- und Genehmigungskriterien durch die Bundesregierung für die Öffentlichkeit transparent machen.
Mittelfristig sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß die politischen Bewertungskriterien für nationale Rüstungsexporte in geltendes Recht der EU für Exporte in Drittstaaten überführt werden. Ansätze hierfür liefern die von den Europäischen Räten von Luxemburg und Lissabon vereinbarten Kriterien für Exporte von Rüstungsgütern, die ausdrücklich auf die Achtung der Menschenrechte der Empfängerländer, ihrer inneren Situation, ihrer Einstellung zum Frieden in der Region, zum Terrorismus und zur Einhaltung von internationalen Verträgen verweisen. Die Rechtsstellung der Exportkontrolle bei der EU-Kommission sollte im Interesse einer verbesserten Anwendung dieser Kriterien gestärkt werden.
19. Gute Nachbarschaft und historische Verantwortung - Israel
"Israel gegenüber bleibt Deutschland in einer besonderen Verpflichtung. Die neue Bundesregierung wird daher nach Kräften daran mitwirken, die Sicherheit Israels zu bewahren und die Konflikte in der Region friedlich zu lösen." (Kap. XI, Abschn. 10, Seite 47)
Lage
Die Konflikte im Nahen Osten und in den anderen Subregionen des Mittelmeerraums friedlich zu lösen, liegt nicht nur im Sicherheitsinteresse Israels. Auch der Sicherheit Europas wäre damit gedient, wenn in seiner Nachbarregion zwischenstaatliche und innergesellschaftliche Probleme ausschließlich am Verhandlungstisch und durch demokratische und rechtsstaatliche Verfahren gelöst würden.
In einer geostrategischen Sichtweise erstreckt sich die Bedeutung der Region über die unmittelbaren Anrainerstaaten hinaus nach Süden und Osten und schließt die Staaten des Persisch-Arabischen Golfs, des Roten Meeres und des Horns von Afrika mit ein. Dieser Raum ist Schauplatz divergierender globaler Interessen. Ökonomisch gesehen liegen hier die weltweit größten Energievorräte; gesellschaftlich gesehen, begegnen sich hier die Kulturen von Orient und Okzident. Europa und damit die Bundesrepublik sind keineswegs immun gegen die grenzüberschreitenden Gefahren und Risiken, die aus Gewalt, Krieg und Terror, Rüstungswettläufen, wirtschaftlicher Fehlentwicklung und despotischer Herrschaft in dieser Region resultieren. Wenn es nicht gelingen sollte, die Lösung vor allem des Palästina-Problems auf der Grundlage völkerrechtlicher Normen voranzutreiben - und das bedeutet: eine Beilegung auf der Grundlage der Formel "Land für Frieden" - dürften weiterreichende Konzepte für ein Zusammenwachsen der Länder des Mittelmeerraums kaum Realisierungschancen haben.
Gerade bei der Förderung des nahöstlichen Friedensprozesses kommt Deutschland eine besondere Verantwortung zu. Die besondere Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel entbindet die Bundesrepublik nicht von ihrer Verantwortung auch gegenüber dem palästinensischen Volk, das durch die Entstehung des Staates Israel auf dem Boden des vormaligen britischen Mandatsgebiets Palästina ebenfalls von den Konsequenzen der Judenverfolgung des Dritten Reiches betroffen ist. Schon allein aufgrund der Sensibilität des Gegenstandes kann Deutschland auf diesem Terrain nur in engster Abstimmung vor allem mit seinen europäischen Partnern handeln.
Europa engagiert sich in vielfältiger Weise in seiner Nachbarregion: Die EU hat sich zur schrittweisen Errichtung einer euro-mediterranen Freihandelszone bis zum Jahre 2010 bekannt. Der hierfür ins Leben gerufene "Barcelona-Prozeß", an dem neben der EU zwölf weitere Staaten des südlichen und östlichen Mittelmeerraums teilnehmen, soll zugleich helfen, hier Normen zu etablieren, die an Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte, Gewaltverzicht und Nichtverbreitung von nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen orientiert sind. Die OSZE ist bemüht, u.a. über ihre Mittelmeer-Kontaktgruppe ihren "Kooperations-partnern im Mittelmeerraum" (Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Marokko, Tunesien) die gesamteuropäischen Erfahrungen vor allem auf dem Gebiet der Vertrauensbildung zu vermitteln, und beteiligt sie an den Arbeiten am Sicherheitsmodell für Europa im 21. Jahrhundert. Die WEU hat sich zum Ziel gesetzt, mit ausgewählten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens (Ägypten, Algerien, Israel, Marokko, Mauretanien, Tunesien) einen Mittelmeerdialog zu außen- und sicherheitspolitischen Problemen zu installieren, und organisiert über ihre Mittelmeer-Arbeitsgruppe Informationstreffen auf Expertenebene. Die WEU will den Barcelona-Prozeß unterstützen und zur Lösung einer Vielzahl von Problemen beitragen, zu denen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Anti-Personenminen ebenso gehören wie Terrorismus und Drogenhandel. Die Mittelmeer-Kooperationgruppe der NATO schließlich führt mit ausgewählten südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern (Ägypten, Israel, Jordanien, Marokko, Mauretanien, Tunesien) einen bilateralen Mittelmeerdialog auf der Basis 16+1, der von Fall zu Fall auch multilaterale Treffen einschließen kann. Neben dem politischen Meinungsaustausch dient der Dialog dazu, den Mittelmeerpartnern NATO-Expertise in ausgewählten Feldern (z.B. Peacekeeping, Rüstungskontrolle, Katastrophenschutz u.a.) zu vermitteln.
Das vielgestaltige Engagement Europas spiegelt die Bedeutung des Mittelmeerraums für die europäische Sicherheit wider. Europa dürfte kaum in der Lage sein, sich stets den Folgen gewaltsam ausgetragener Konflikte in seiner Nachbarregion zu entziehen. In der Aufzählung wesentlicher möglicher Gefahrenquellen sind sich die vier Institutionen weitgehend einig: Ressourcenverknappung bzw. -verteuerung, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Migration, Drogenhandel, internationaler Terrorismus. Ihrem Zuschnitt und ihrer Agenda entsprechend haben ihre Mittelmeerdialoge unterschiedliche Schwerpunkte: Wirtschaftliche Entwicklung, demokratische Entfaltung, militärische Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle, polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit.
Kontraproduktiv wirken sich Schwerpunktsetzungen jedoch dann aus, wenn sie zu einander widersprechenden Aktivitäten führen: Seminare der OSZE mit ihren "Kooperationspartnern im Mittelmeerraum" über Vertrauensbildung und Zusammenarbeit z.B. verlieren in den Augen der südlichen Mittelmeerstaaten deutlich an Überzeugungskraft, wenn die Mittelmeeranrainer Spanien, Portugal, Italien und Frankreich zeitgleich die Aufstellung interventionsfähiger Streitkräfte (Eurofor und Euromarfor) beschließen und diese der WEU andienen, ohne deren Mittelmeerdialogpartner zu informieren, geschweige denn zu konsultieren. Es überrascht nicht, daß der Rat der Arabischen Liga Besorgnis über die Bildung einer europäischen Interventionstruppe sowie einer Amphibientruppe am Mittelmeer geäußert und die Einlösung der Prinzipien des Dialogs und der Partnerschaft eingefordert hat, die in der Erklärung von Barcelona (1995) niedergelegt sind. Solche Widersprüche und zugleich mögliche Doppelungen von Aufgaben und Zuständigkeiten gilt es künftig zu verhindern: Kurzfristig erforderlich ist eine bessere Koordination von einzelnen Maßnahmen; mittelfristig benötigt wird ein Mittelmeerkonzept, das keine neuen Feindbilder aufbaut, sondern dem Leitbild einer Sicherheitspartnerschaft folgt.
Empfehlungen
Ein nachhaltiger Nachbarschaftsdialog mit dem Ziel einer Partnerschaft kann in Anbetracht der Vielzahl, Dauer und Intensität der Konflikte im südlichen und östlichen Mittelmeerraum nur als mittelfristige Strategie angelegt sein, die nichtsdestoweniger auch kurzfristig neuer Impulse bedarf. Dem Beispiel des von der EU initiierten Barcelona-Prozesses folgend, sollten die OSZE, die WEU und die NATO die Palästinensische Autonomiebehörde als Partnerin in ihre Mittelmeerdialoge integrieren. Diese Maßnahme würde die Autonomiebehörde international aufwerten. Zugleich würde diese Aufwertung den gegenwärtigen Dialogpartnern unter Einschluß Israels signalisieren, daß Europa dem Prozeß der palästinensischen Staatswerdung einen hohen Stellenwert für die friedliche Lösung des Nahostkonflikts beimißt.
Wenn der nahöstliche Friedensprozeß blockiert bleibt und der Rückzug der israelischen Armee aus weiteren Teilen der Westbank gemäß dem Wye-Abkommen nicht vorgenommen wird, könnte die Palästinensische Autonomiebehörde entscheiden, im Laufe des Jahres 1999 auf dem Gebiet der Westbank und des Gazastreifens einen unabhängigen Staat Palästina auszurufen. Falls dies geschieht, sollte die Bundesrepublik für eine Anerkennung des Staates Palästina durch die EU-Staaten eintreten.
Die EU benötigt für eine effektive Mitwirkung im nahöstlichen Friedensprozeß, die über die Rolle eines Finanziers hinausgeht, mehr Geschlossenheit - sowohl beim Umgang mit akuten Krisen (z.B. beim Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedstaaten in der UN-Vollver-sammlung) als auch bei der Förderung von Konfliktlösungen (z.B. bei der Ausübung entschiedenen, einschließlich wirtschaftlichen, Drucks auf Konfliktparteien, die sich vertraglichen Verpflichtungen im Friedensprozeß entziehen). Die Vorbereitungen für das dritte euro-mediterrane Gipfeltreffen in Stuttgart im April 1999 bieten die Gelegenheit, hierfür institutionelle Vorkehrungen zu treffen. Zur Überwindung interner Interessengegensätze sollte die Bundesrepublik darauf hinwirken, daß die EU eine international zusammengesetzte unabhängige Expertengruppe einrichtet, die Kommission, Ministerrat und Europäisches Parlament bei ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in Fragen des israelisch-arabischen Konflikts bzw. Friedensprozesses beratend zur Verfügung steht.
Auch im Zusammenspiel der verschiedenen europäischen und transatlantischen Organisationen bedarf es besserer Abstimmung in der Mittelmeerpolitik. Daher erscheint die Einrichtung eines zwischen OSZE, EU/GASP, WEU und NATO angesiedelten Mittelmeer-Koordinations-gremiums empfehlenswert. Dessen Aufgabe bestünde darin, die Aktivitäten der Mittelmeer- initiativen in den Dimensionen Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und Förderung der Zivilgesellschaft besser zu koordinieren sowie Interessendivergenzen zwischen den Staaten abzumildern, die eine besondere Verantwortung für den Mittelmeerraum für sich reklamieren. Der partnerschaftliche Ansatz des Barcelona-Prozesses erfordert, daß ein solches Gremium je nach Problemlage grundsätzlich für die konzeptionelle Mitarbeit von seiten aller Dialogpartner offen ist. Sein informeller Charakter würde es ihm erlauben, seine Zusammensetzung und Arbeitsweise flexibel auf die Besonderheiten der jeweiligen Interessenkonstellation auszurichten.
20. Gute Nachbarschaft und historische Verantwortung - Rußland
"Die neue Bundesregierung wird die guten Beziehungen zu Rußland und der Ukraine weiterentwickeln und auf eine breite Grundlage stellen. Es ist ihr Ziel, die Stabilität in diesem Raum durch Unterstützung demokratischer, rechtsstaatlicher, sozialer und marktwirtschaftlicher Reformen zu sichern." (Kap. XI, Abschn. 10, Seite 48)
Lage
Michail S. Gorbatschows Diktum vom "gemeinsamen europäischen Haus" aus dem Jahre 1985 versinnbildlicht die heute bereits von vielen geteilte Vision eines gesamteuropäischen Integrationsprozesses unter Einschluß der damaligen Sowjetunion. Seit über zehn Jahren wird vom Westen vor allem der Ostflügel des Hauses Europa umgestaltet: einige Zimmer erweitert, Türen geöffnet, separate Empfangsräume angeschlossen. Bereits seit geraumer Zeit wird dabei deutlich, daß sich dieses Haus dennoch nur schwerfällig mit Leben füllt.
Die Rußländische Föderation nimmt eine paradoxe Schlüsselposition in Europa ein. Mittelfristig wird das größte Land der Erde nicht integrierbar sein, gleichzeitig ist gesamteuropäische Kooperation und Integration aber nur mit Rußland zu erreichen. Die Bundesregierung verfolgte bisher in enger Übereinstimmung mit anderen westlichen Staaten eine Doppelstrategie der abgestuften Erweiterung westlicher Institutionen um die mittelost- und osteuropäischen Reformländer und der gleichzeitigen Einbeziehung bzw. Einbindung Rußlands in die institutionelle Kooperation. Sie sah darin sowohl einen Beitrag zur Unterstützung des Systemwechsels in den Reformländern als auch eine gesamteuropäische Friedensstrategie. Rußlands Wünsche nach gleichberechtigter Mitgestaltung in Europa konnten hierbei freilich nur insoweit erfüllt werden, als sie das westliche Verständnis von Stabilität nicht in Frage stellten.
Seit dem Zerfall der UdSSR wurde die Rußländische Föderation wie auch die übrigen Nachfolgestaaten in wachsender, wenn auch abgestufter Intensität am gesamteuropäischen Integrationsprozeß beteiligt. Auf vielen Ebenen wurden Dialog, Konsultation, Kooperation und auch gleichberechtigte Mitbestimmung möglich. Im Vordergrund stand dabei freilich die auf einen raschen Systemwechsel hin zur Marktwirtschaft zielende Unterstützung in Form von Krediten und einer Vielfalt von Unterstützungs- und Kooperationsprogrammen.
Nur wenige Jahre nach dem Zerfall des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und der Warschauer Vertragsorganisation ist Rußland bereits in die internationalen Weltwirtschafts- und Finanzorganisationen einbezogen (Mitgliedschaft in IWF und Weltbank, Erweiterung der G-7 zur G-8, Mitgliedsverhandlungen mit der WTO, OECD, IEA und NEA), hat wie die Ukraine mit der EU ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen unterzeichnet, wurde als Vollmitglied in den Europarat, in den Ostseerat, die Barents-Euro-Arktische Regionalkooperation und den Schwarzmeerwirtschaftskooperationsrat aufgenommen, ist Vollmitglied im Euro-Atlan-tischen Partnerschaftsrat, beteiligt sich am Programm Partnerschaft für den Frieden, ist gleichberechtigt in die Kontaktgruppe sowie nach einer spezifischen Statuslösung in die IFOR, die SFOR und die OSZE-Beobachtergruppe im Kosovo einbezogen und unterhält Dialogbeziehungen zur WEU. Die NATO-Rußland-Grundakte begründet ein Sonderverhältnis zwischen dem Verteidigungsbündnis und Rußland. Allmählich wachsen auch wieder bi- und multilaterale Kooperationsbeziehungen zwischen Moskau und den mittelosteuropäischen und baltischen Staaten.
Was sich freilich schon geraume Zeit am Horizont abzeichnete, ist durch die jüngste Finanz- und Führungskrise des Jahres 1998 in Rußland vollends offenbar geworden: Erstens haben gerade die großen postsowjetischen Reformländer einen vergleichsweise schwierigen Transformationsweg vor sich und drohen immer wieder daran zu scheitern. Zweitens war die bisherige westliche Kooperationsstrategie in vielen Fällen zu etatistisch, zu oberflächlich, zu kurzsichtig und bisweilen auch halbherzig. Kursänderungen in der Kooperationspolitik sind daher unumgänglich. Zwischenstaatliche Beziehungen müssen mit zivilgesellschaftlichen Kontakten verbunden werden, Differenzen der politischen und wirtschaftlichen Kulturen dürfen nicht ausgeblendet werden, Partnerschaft muß ihren Ausdruck in Gleichberechtigung und einer langfristigen Perspektive gemeinsamer Verantwortung für die Probleme des Kontinents finden.
Empfehlungen
Die Bundesregierung hat durch die Besuche in Rußland im November 1998 bereits erste Signale dieser neuen Partnerschaft gesetzt. Kurzfristig sind nun klarere Zeichen einer Solidarität gegenüber der russischen Bevölkerung gefordert: So richtig es ist, den russischen Bürgerinnen und Bürgern Zeit zu geben, sich "auf eigene Füße zu stellen", so sinnvoll es ist, vor weiteren Kreditvergaben die Konditionen und Adressaten zu überprüfen, so wenig darf dies als Entschuldigung dafür herhalten, sich nicht klar für eine weitere Unterstützung der vielfältigen zivilgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesse in Rußland auszusprechen. Noch ist Zeit, die Wertegemeinschaft von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von außen abzustützen und den am Horizont drohenden Gefahren der Faschisierung und kriminellen Chaotisierung zu wehren. In enger Zusammenarbeit mit NGOs und lokal verankerten Medien (freie Radio- und TV-Sender, unabhängige Zeitungen) kann mit vergleichsweise geringem finanziellen Aufwand in Kampagnen die Gestaltungskraft engagierter Bürgerinnen und Bürger, die sich unter teilweise schwierigen Bedingungen für die Wahrung ihrer Freiheitsrechte einsetzen, gestärkt werden. Dabei wäre eine enge Zusammenarbeit mit deutschen Menschenrechtsgruppen anzustreben.
Hilfe zur Selbsthilfe bleibt die wirksamste Unterstützungsform. Russische Menschen beweisen in Wirtschaftskrisen immer wieder ihre Kreativität und Ausdauer bei der Sicherung ihrer Grundbedürfnisse. In dem mittlerweile weit verbreiteten Tauschhandel und in der Schattenwirtschaft liegen Quellen selbstverantwortlicher Wirtschaftstätigkeit verborgen. Sie können, ebenfalls mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln in Keimzellen lokaler Marktwirtschaft überführt werden. Notwendig wäre dazu europäische Unterstützung beim Aufbau eines Genossenschaftswesens, selbstverwalteter Projekte und Betriebe, von Gemeinwesen- und Eigenarbeit sowie Nachbarschaftshilfe für einen aufzubauenden Non-Profit-Sektor.
Demokratie kann man nicht kaufen, aber man kann versuchen, ihre Glaubwürdigkeit bei der russischen Bevölkerung wiederherzustellen: Eine für die Menschen vor Ort sichtbare Unterstützung des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens (z.B. Sprachaustausch, Praktika, Bau von Schulen, Universitäten, Krankenhäusern etc.), des Jugend-, Kultur- und Sportaustauschs (z.B. Gründung eines Deutsch-Russischen Jugendwerkes) kann gerade die jüngere Generation ermutigen, sich für einen demokratischen Wandel stark zu machen.
Sowohl in Westeuropa als auch in Rußland sind im Laufe des Systemwechsels Desillusionierung und schiefe Bilder voneinander entstanden. Das Rußlandbild in deutschen Medien suggeriert ein Land der "Mafia, Morde und Misere". Mit geringem finanziellem Aufwand könnte durch das Engagement namhafter Persönlichkeiten aus beiden Ländern eine Medienkampagne zur Verständigung und Überwindung von Klischees initiiert werden.
Mittelfristig sind gerade mit Blick auf die bevorstehende deutsche EU-Präsidentschaft die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Rußländischen Föderation "auf eine breitere Grundlage zu stellen".
Die Rußländische Föderation und nicht die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ist das Pendant zur EU auf dem eurasischen Kontinent. Für die Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) besteht die Herausforderung der Zukunft darin, gemeinsam mit Rußland zwischen den Staaten der früheren Sowjetunion Konflikte zu verhüten sowie die dortigen regionalen Kooperations- und Integrationsstrukturen zu stärken. Konzepte, die Rußland aus der regionalen Zusammenarbeit im GUS-Raum, z.B. in der Kaspischen Region, ausschließen, bergen Sicherheitsrisiken in sich.
Die EU muß Wege finden, Rußland als Föderation zu stärken und die dort unverkennbare Dynamik der Regionalisierung und Dezentralisierung konstruktiv in ihre Kooperationsstrategien einbeziehen, d.h. die außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Kompetenzen der Föderationssubjekte zur Geltung kommen lassen, ohne den Föderationsvertrag zu verletzen. Einige Beispiele: Finanzielle Anreize (TACIS II-Programme etc.) zur Stärkung der interregionalen Kooperation könnten helfen, Sezessionismus von Gebietskörperschaften zu verhüten. Die EU-Troika könnte in Verhandlungen das Prinzip der Parallelität von Europäischer Union und Rußländischer Föderation zum Ausdruck bringen, indem sie nach einem zu ermittelnden Proporz- und Rotationssystem die Vertreter der acht interregionalen Wirtschaftsvereinigungen russischer Gebietskörperschaften mit einem beratenden Status in den Dialog des Kooperationsrates mitsamt seinen Unterausschüssen und Arbeitsgruppen einbezieht. Analog könnte das Europäische Parlament und andere EU-Gremien neben dem Dialog mit der Staatsduma, Gesprächskontakte zu den Abgeordneten der Parlamente der Föderationssubjekte institutionalisieren. Nicht zuletzt müßten auch von EU-Seite die zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Kommunen, NGOs und der Bevölkerung stärker in den Blick genommen werden.
21. Abkürzungsverzeichnis
ABM |
Anti-Ballistic Missile/Anti-Ballistische Rakete |
BDIMR |
Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (der OSZE) |
CASA |
(UN-) Control Activities on Small Arms/Aktivitäten zur Kontrolle der Kleinwaffen |
CIVPOL |
Civilian Police/Zivilpolizei |
DFG |
Deutsche Forschungsgemeinschaft |
DPKO |
Department of Peacekeeping Operations/Abteilung für Peacekeeping-Operationen |
EAPR |
Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat |
EBRD |
European Bank for Reconstruction and Development/Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung |
EP |
Europäisches Parlament |
EU |
Europäische Union |
G-7 |
Gruppe der sieben führenden Industriestaaten (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA) |
G-8 |
G-7-Staaten und Rußland |
GASP |
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der EU) |
GUS |
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten |
IEA |
International Energy Agency/Internationale Energie Agentur |
IFOR |
Implementation Force/Implementierungstruppe |
IGH |
Internationaler Gerichtshof |
IWF |
Internationaler Währungsfonds |
KSE |
Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa |
KSZE |
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa |
KVZ |
Konfliktverhütungszentrum (der OSZE) |
MoU |
Memorandum of Understanding |
NATO |
North Atlantic Treaty Organization/Nordatlantikvertrags-Organisation |
NEA |
Nuclear Energy Agency/Nukleare Energie Agentur |
NGO |
Non-Governmental Organization |
NRO |
Nichtregierungsorganisation |
OECD |
Organization for Economic Cooperation and Development/Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung |
OSZE |
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa |
PKK |
Partiya Karkeren Kurdistan/Kurdische Arbeiterpartei |
RTFA |
Rüstungstechnologiefolgenabschätzung |
SAS |
Standby Arrangements System/System der Bereitschaftsabkommen |
SFOR |
Stabilization Force/Stabilisierungstruppe |
SHIRBRIG |
Standby High Readiness Brigade/Brigade mit hoher Einsatzbereitschaft |
START |
Strategic Arms Reduction Treaty/Vertrag über die Reduktion Strategischer Waffen |
StGB |
Strafgesetzbuch |
TACIS |
Technical Assistance for the CIS/Technische Unterstützung für die GUS |
UCK |
Ushtria Clirimtare e Kosovës/Befreiungsarmee des Kosovo |
UN |
United Nations/Vereinte Nationen |
UNAMIR |
United Nations Assistance Mission for Rwanda/UN-Unterstützungsmission für Ruanda |
UNCIVPOL |
United Nations Civilian Police/UN-Zivilpolizei |
UNFICYP |
United Na |