Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik

 

            Ausgabe 29/1999                                                  Hamburg, Oktober 1999

 

 

 

                                                                 Dieter S. Lutz

 

Die Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung - Vision und Realität

 

Vortrag im Rahmen des Arbeitskreises Friedens- und Konfliktforschung, Planungsstab/Auswärtiges Amt in Berlin am 27. September 1999

 

 

1.      Vorbemerkungen/Kurzdefinitionen

 

Das Thema meines Vortrages ist die "Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung" - ein Thema, das schon begrifflich komplex und vielschichtig ist. Ich beginne deshalb mit einigen eher definitorischen Bemerkungen.

Was ist Frieden? Aus meiner Sicht ist Frieden ein politischer Prozeß. Er soll im Zusammenleben der Menschen und Völker der Existenzerhaltung und -entfaltung dienen. Er ist die Voraussetzung dafür, daß die Menschenrechte verwirklicht und Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Armut, Hunger, Unterdrückung verhütet bzw. beseitigt werden. Er soll ferner die natürlichen Lebensgrundlagen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowohl nutzen als auch für kommende Generationen bewahren helfen.

Was ist Europa? Unter "Europa" verstehe ich im folgenden Gesamteuropa, in jedem Fall mehr als die Europäische Union (EU) oder die Westeuropäische Union (WEU). Ob und wie weit Europa OSZE-Europa entspricht, muß gesondert diskutiert werden. Unter den 54 bzw. 55 Teilnehmerstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befinden sich neben den europäischen Ländern auch transkaukasische und zentralasiatische Staaten, ferner Rußland, das sowohl einen europäischen als auch einen asiatischen Landesteil besitzt und schließlich zwei nordamerikanische Staaten. Auf die USA werde ich im folgenden eingehen. Auf Rußland sollten wir gesondert zu sprechen kommen: Einerseits ist es schwierig, Rußland zu integrieren, andererseits ist eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung nur in Partnerschaft mit Rußland zu bauen.

Was ist eine "Friedens- und Sicherheitsordnung"? Ein "Friedensordnung" ist nach meiner Ansicht - soweit eine Aussage in einem Satz überhaupt möglich ist - eine demokratische Ordnung, in der die Gefahr des gewaltsamen Konfliktaustrages nicht (mehr) besteht. Frieden, definiert sich insoweit negativ als Abwesenheit von Gewalt, insbesondere als Abwesenheit von Kriegen und positiv als Verwirklichung der Menschenrechte. Eine "Sicherheitsordnung" wiederum ist eine Ordnung von Regeln, Institutionen und Instrumenten, mit denen sich Staaten, Völker und Menschen vor der Gefahr von Gewalt, insbesondere von Kriegen schützen.

Trifft es allerdings zu, daß Frieden ein Prozeß ist, so dürfen die nachfolgenden Ordnungsvorstellungen (insbesondere die der Kollektiven Sicherheit) und Modellüberlegungen (insbesondere die einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft/ESG) nicht statisch oder auf lediglich eine (Ideal-)Organisation bezogen verstanden werden. In der sozialen, politischen und rechtlichen Realität muß dem friedlichen Wandel vielmehr ebenso Raum gelassen werden wie "Ordnung" sich auch aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Institutionen (interlocking institutions) ergeben kann. Gerade deshalb aber wiederum bleibt richtig: Gestaltende Politik braucht Wegweiser, Maßstäbe, Ordnungsvorstellungen.

 

 

2. Eine Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung existiert (noch) nicht

 

Wie vorgegeben, ist mein Thema die "Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung". Meine erste These lautet gleichwohl: Eine Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung existiert nicht. Weder gibt es eine Friedensordnung, welche die Bezeichnung "europäisch" verdient. Noch gibt es eine Ordnung Europas, welcher der Name "Friedens"-Ordnung gebührt. Weder gibt es eine Sicherheitsordnung, welche die Bezeichnung "europäisch" verdient. Noch gibt es eine Ordnung Europas, welcher der Name "Sicherheits"-Ordnung gebührt. Im Gegenteil wird das Europa von heute von einer Reihe von Widersprüchen und Paradoxien geprägt, wenn nicht gar beherrscht. Ich werde auf diese Paradoxien noch zu sprechen kommen. Die Folgen dieser Widersprüche und Paradoxien jedenfalls sind Kriege und gewaltsame Konflikte - auch mitten in Europa - mit Hunderttausenden von Toten, Verwundeten und Flüchtlingen.

 

 

3. Wer eine Europäische Friedensordnung will, muß sich für die Öffnung der EU einsetzen

 

Wenn ich behaupte, daß eine "Europäische Friedensordnung" nicht existiert, so sage ich nicht, daß es keine Friedensordnung "in" Europa gäbe, exakter noch: daß es keine "west"-europäische Friedensordnung gäbe. Im Gegenteil haben ganz zweifelsohne die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend dazu beigetragen, Europa-West nicht nur grundlegend zu verändern. EG und EU kommen vielmehr ein Verdienst zu, das nicht hoch genug zu veranschlagen ist: Sie haben die einzige multinationale Struktur in Europa entwickelt, die nicht nur ein Sicherheitssystem darstellt, sondern eine Friedensordnung. Ein kriegerischer Konflikt zwischen den EU-Mitgliedern kann heute nach menschlichem Ermessen als strukturell ausgeschlossen gelten. Neben wirtschaftlichen Wohlstand ist Frieden das maßgebliche Ergebnis der Integration Westeuropas - und zwar nach der fruchtbarsten aller Methoden: der Konfliktvorbeugung durch Beseitigung der Konfliktursachen. Frieden durch Integration heißt die Erfahrung, die EU-Europa in die gesamteuropäische Zukunft einbringen kann. Meine zweite These lautet entsprechend: Der friedensstrategische Beitrag, den die Europäische Union für Gesamteuropa leisten kann, ja leisten muß, geht über die kurzfristige Hilfe zur ökonomischen und politischen Konsolidierung "Rest"-Europas hinaus. Er richtet sich mittel- und langfristig auf die Öffnung und Ausweitung der Union selbst. Deutlicher noch: Wer eine "Europäische Friedensordnung" im Wortsinne will, muß sich entschlossen für eine Öffnung und Ausweitung der EU einsetzen.

 

 

4. Eine Friedensordnung muß wachsen, eine Sicherheitsordnung läßt sich schaffen

 

Wer diese These seriös vertritt, muß ihr zwingend zwei grundlegende Einsichten zur Seite stellen: Zum einen ist der Zeitbedarf für ein so ehrgeiziges Vorhaben wie der Öffnung und Ausweitung der EU mit dem Ziel der Schaffung einer Europäischen Friedensordnung eher nach Jahrzehnten denn nach Jahren zu bemessen. Zum anderen kann ein auch noch so anspruchsvolles Projekt langfristiger ökonomischer Integration gegen die heute schon glimmenden Brandherde in den Krisenregionen Europas nichts oder nur wenig ausrichten. Meine dritte These lautet deshalb: Kurz- und mittelfristig braucht Europa noch etwas anderes und zusätzliches, nämlich eine funktionstüchtige und effiziente Sicherheitsstruktur, die hilft, Konflikte friedlich beizulegen und Gewalt, sollte sie dennoch ausbrechen, im frühestmöglichen Stadium und auf niedrigster Ebene zu unterbinden. In Worten von Reinhard Mutz formuliert, lautet diese dritte These: Eine Friedensordnung muß wachsen, eine Sicherheitsordnung aber läßt sich schaffen.

 

 

5. Das gegenwärtige Sicherheitssystem wird von Paradoxien geprägt

 

Die Zeit seit der "Epochenwende" von 1989 waren zehn - im Sinne der dritten These - nutzbaren Jahre. Sie sind wenig genutzt dahingegangen. Die ungeschminkte Wahrheit - so auch meine vierte These - lautet sogar: Das Sicherheitssystem in und für Europa, das wir gegenwärtig haben, ist weit davon entfernt, einer Sicherheitsordnung im definierten Sinne auch nur nahe zu kommen. Es ist ineffizient, fragmentiert, völlig überrüstet und wird nach meiner Ansicht von einer Reihe von Widersprüchen und Paradoxien geprägt, ja beherrscht.

Auf einige dieser Widersprüche und Paradoxien werde ich im folgenden näher eingehen.

 

 

6. "Vorsorgen ist besser als Heilen" bleibt bloßes Lippenbekenntnis

 

Zu den angeführten Paradoxien gehört zum Beispiel das lautstarke Bekenntnis aller politischen Kräfte zur Krisenprävention einerseits und die gleichzeitige Ignoranz und Passivität der europäischen Staatengemeinschaft gegenüber erkennbaren oder gar schon eskalierenden Konfliktpotentialen andererseits. Meine fünfte These lautet deshalb: "Vorsorgen ist besser als Heilen" bleibt im gegenwärtigen europäischen Sicherheitssystem weitgehend bloßes Lippenbekenntnis.

Der Ausbruch des Bosnienkonfliktes Anfang der 90er Jahre etwa - von Politik und Wissenschaft lange vorhergesagt - wurde weder verhindert noch in seiner tragischen Eskalation eingefangen. Europa schaute mehr oder weniger entsetzt zu, bis die Aggressoren ihre kriegerischen Ziele größtenteils erreicht hatten. Die politischen, ökonomischen und psychischen Konsequenzen des Krieges, aber auch die finanziellen Kosten, um das Land wieder aufzubauen, lassen sich bis heute kaum schätzen. Allein für die Aufnahme der Bosnienflüchtlinge mußte Deutschland in den vergangenen Jahren bis zu 20 Milliarden DM aufbringen. Was hätte mit diesem Betrag - vorbeugend eingesetzt - nicht alles Positives geschaffen, aufgebaut, bewirkt werden können?

Prävention als Lehre blieb gleichwohl inhaltsleer und folgenlos: Mit oder ohne Absicht wurde in Dayton zum Beispiel das Kosovo vergessen. Über Jahre hinweg fanden die Kosovo-Albaner darüber hinaus kaum Gehör bei der europäischen Völkergemeinschaft. Erst als die soziale Verteidigung der Kosovo-Albaner in den bewaffneten Kampf umschlug, erst als aus Freiheitskämpfern Terroristen wurden, erst als die Serben begannen, albanische Zivilisten zu massakrieren, erst als albanische Nationalisten drohten, um eines Großalbaniens willen den gesamten Balkan in einen Krieg zu verwickeln, erst da erwachte Europa aus seiner Lethargie und zwang Serben und Kosovo-Albaner an den Verhandlungstisch von Rambouillet. Zu spät! Fünf nach zwölf ist Prävention nicht mehr möglich. Schon gar nicht, wenn die bitter notwendigen Strukturen, Mechanismen, Finanzmittel und Personen für eine effektive und erfolgreiche Prävention fehlen bzw. erst gefunden oder aufgebaut werden müssen. So scheiterte das Hoolbroke-Milosevic-Abkommen vom Oktober 1998 u.a. deshalb, weil die zugesagten 2.000 OSZE-Verifikateure im gegenwärtigen europäischen Sicherheitssystem nicht vorgehalten werden und vor einem Jahr auch nicht rasch genug gefunden wurden. So kann auch das nach dem Krieg von der NATO errichtete "Protektorat", was zu deutsch "Schutz"-Gebiet heißt, bis heute Vertreibungen, Plünderungen und Mord nicht verhüten, weil schlichtweg die erforderlichen 3.000 (internationalen) Polizisten fehlen. Auch sie sind im gegenwärtigen europäischen Sicherheitssystem weder vorgesehen, noch kam in den vergangenen Monaten des Krieges jemand in den Planungs- und Führungsstäben der kriegführenden Parteien auf die Idee, rechtzeitig, sprich: präventiv, eine entsprechende internationale Polizei zu suchen bzw. aufzubauen. Nochmals: Zivile Vorsorge ist bloßes Lippenbekenntnis.

 

 

7. Die NATO-Staaten führen einen Rüstungswettlauf mit sich selbst

 

Anders dagegen die militärische Vorsorge. Auch sie gehört - wenngleich aus gegenläufigen Gründen zu den großen Paradoxien des gegenwärtigen europäischen Sicherheitssystems. Zwar ist in der öffentlichen Meinung die Ansicht weit verbreitet, das vergangene Jahrzehnt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sei eine "Abrüstungsdekade" gewesen und die NATO-Staaten hätten in einem nie dagewesenen Ausmaß - und zwar überproportional - abgerüstet. Doch ist diese Ansicht ein gefährlicher Irrglaube. Richtig ist vielmehr, daß der weltweite Rückgang der Militärausgaben und der Bestände an Soldaten in erster Linie auf Reduzierungen Rußlands bzw. der vormaligen Sowjetunion zurückzuführen sind. Die Militärausgaben Rußlands liegen gegenwärtig bei lediglich 20 Milliarden US-Dollar, die der USA und der europäischen NATO-Staaten dagegen noch immer bei ca. 270 bzw. 180 Milliarden US-Dollar. Die NATO gibt somit nicht nur das Zehn- bis Zwanzigfache von Rußland aus. Allein die 19 Staaten der NATO haben mit der gewaltigen Summe von über 450 Milliarden US-Dollar zugleich mehr als fünf Achtel der gesamten Rüstungsausgaben der etwa 190 Staaten dieser Welt zu verantworten.

Die Schlußfolgerung, stärker abzurüsten, wird gleichwohl nicht gezogen. Im Gegenteil: Erst kürzlich haben die USA bzw. der US-Kongreß abermals die Absicht bekundet, ihren Militäretat um weitere 112 Milliarden US-Dollar aufzustocken. Die Europäer - so der Wille der USA und der NATO - sollen nachziehen. Bereits Anfang Februar haben US-Verteidigungsminister Cohen und NATO-Generalsekretär Solana auf der Münchener Wehrkundetagung heftig "die wachsende Kluft zwischen den Investitionsausgaben im Verteidigungsbereich zwischen Amerika und seinen Verbündeten" kritisiert und die Europäer ermahnt, die Rüstungsetats anzuheben. Auf dem jüngsten Gipfel des Europäischen Rates der EU in Köln am 4. Juni 1999 wurde der "Ausbau von wirksamen europäischen militärischen Fähigkeiten" und die "Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien mit dem Ziel einer engeren und effizienteren Zusammenarbeit" beschlossen. Auf dem Septembertreffen der NATO-Verteidigungsminister in Toronto faßte Washington seine Mahnung abermals in deutliche Wort, so z.B. in der FAZ vom 23. September: "Die Amerikaner erwarten, daß ihre Verbündeten ihre Defizite zügig beseitigen und insbesondere ihre Kommando- und Führungssysteme, ihre Luftbeweglichkeit, ihre Aufklärungsmittel, ihre Kampfkraft sowie das Durchhaltevermögen ihrer Streitkräfte deutlich verbessern ... Dazu gehört auch die Beschaffung 'intelligenter', also punktzielgenauer Munition, ebenso wie die einer Luftflotte für den Transport von Soldaten und schweren Gerät".

Spätestens seit dem Kölner Gipfel ist meines Erachtens erkennbar: Die Idee der "Zivilmacht Europa" ist in starker Veränderung begriffen. Ich befürworte diese Veränderungen so weit, wie sie für eine funktionsfähige Sicherheitsordnung Europas erforderlich sind. Gleichzeitig scheint mir eine nachdrückliche Mahnung - rechtzeitig ausgesprochen - notwendig: Wir müssen sehr aufpassen, daß die Idee der Zivilmacht Europa nicht Gefahr läuft, mehr und mehr Makulatur zu werden. Die Staaten der "mächtigsten Militärallianz aller Zeiten", der NATO jedenfalls, führen - so meine sechste These - bereits heute einen absurden und teuren Rüstungswettlauf weithin mit sich selbst. Von der Unterdrückung der Kosovo-Albaner in Jugoslawien hat der Rüstungskoloß NATO hingegen Serbien nicht abschrecken können. Daß darüber hinaus selbst der Einsatz der riesigen Kriegsmaschinerie das propagierte Ziel der Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" nicht verwirklichen konnte, wurde je länger der Krieg dauerte, immer offensichtlicher.

 

 

8. Vasall und Hegemon - ein Tabubruch ist notwendig

 

Ein drittes Paradoxon besteht darin, daß stets von einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung ausgegangen wird, Europa als (allein oder als gleichberechtigt) handelnder sicherheitspolitischer Akteur aber gar nicht existiert. Zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes hatte Europa(-West) seine sicherheitspolitischen Belange an die USA direkt oder an den von den USA dominierten Militärpakt NATO delegiert. Die USA waren die Lösung des Problems (europäische) Sicherheit. Heute - zehn Jahre nach der Zeitenwende - existieren zwar Warschauer Pakt, Sowjetunion und Abschreckungssystem nicht mehr, an der strukturellen Abhängigkeit Europas von Amerika hat sich aber nichts oder nur wenig geändert. Der frühere US-Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski gibt diesem Zustand in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" zutreffend, wenn auch für Europa wenig schmeichelhaft, einen Namen: "Tatsache ist schlicht und einfach, daß Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern." Und Egon Bahr ergänzte erst jüngst mit einem im "Willy Brandt Kreis" vorgelegten Thesenpapier: "Amerika betrachtet Europa strategisch de facto als Protektorat am Westrand des eurasischen Kontinents, dessen Schutzbedürfnis ebenso zu fördern ist wie die Marginalisierung Rußlands und die Schwächung seines Einflusses am Südrand der ehemaligen Sowjetunion. Um ihre globalstrategische Stellung zu behalten und zu stärken, wird Amerika in Zukunft auch ohne Rücksicht auf die UN handeln, also eher eine Politik der Weltbeherrschung statt der Weltordnung verfolgen, der es sich unterzuordnen hätte."

Richtig ist: Frieden und Sicherheit sind in Europa auch zehn Jahre nach dem "Epochenbruch" noch immer nur mit den USA zu erzwingen. Der Dayton-Prozeß, der Ägäis-Konflikt oder aktuell der Kosovo-Konflikt belegen diese Aussage. Doch darf Friedenserzwingung mit militärischen Mitteln nicht - mit einer für Europa so dringend erforderlichen - vorbeugenden Friedenspolitik im Rahmen einer funktionierenden und effektiven Sicherheitsordnung verwechselt werden. Letztere soll ja gerade den Einsatz militärischer Mittel überflüssig machen, Kriege verhüten helfen. Solange sich aber die Europäer nicht auf eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsordnung einigen, solange wird Amerika in Europa seinen dominanten, ja hegemonialen Einfluß behalten. Es liegt im Interesse der USA, nicht Europas, daß dieser Teufelskreis sich immer wieder aufs Neue schließt. Soll er beendet werden, so meine siebte These - dann muß der Tabubruch mitgedacht werden: Entweder die USA ordnen sich (der Vision) einer Sicherheitsordnung nach dem Leitgedanken der Stärke des Rechts ein und unter, oder die Sicherheitsarchitektur Europas muß zumindest auf Zeit auf die Einbeziehung Amerikas verzichten.

An der tiefen Dankbarkeit, welche die Europäer und insbesondere die Deutschen gegenüber den USA empfinden, ändert sich durch diese Analyse nichts. Auch werden nicht diejenigen zu "Anti-Amerikanern", die nachdrücklich Kritik üben, wenn die USA den Vertrag zur Abschaffung der Landminen nicht unterschreiben oder sich dem Weltstrafgerichtshof nicht beugen wollen oder Informationen und Daten selbst im Kriegsfall, wie jüngst im Kosovo, nicht an die Verbündeten der "Wertegemeinschaft" weitergeben. Es ist die Heuchelei und nicht das Streben nach Gleichberechtigung und Partnerschaft, das Freundschaften schwächt, ja zerstört.

 

 

9. Ein System kollektiver Verteidigung kann ein System kollektiver Sicherheit nicht ersetzen

 

Zu den Paradoxien des gegenwärtigen Sicherheitssystems gehört schließlich viertens, daß in den Jahren nach 1989/90 die Jahrhundertchance bestand und auch heute noch besteht, eine stabile und dauerhafte Friedens- und Sicherheitsordnung in und für Europa im Sinne eines regionalen Systems Kollektiver Sicherheit zu schaffen, wie es Kapitel VIII der UN-Charta, aber auch Artikel 24 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorsieht. Diese Chance wurde bislang nicht genutzt.

Für sich genommen, kann die Fortführung der NATO, verbunden mit ihrer Osterweiterung positive Funktionen erfüllen. Genannt werden immer wieder die Demokratisierung der jeweiligen Länder und ihre Heranführung an Europa. Diese Aussagen sind richtig, wenn und soweit die Fortführung der NATO alternativlos ist.

Gemessen allerdings an der Jahrhundertchance nach dem Epochenbruch von 1989/90 und den sich mit ihr eröffnenden Möglichkeiten war und ist das Setzen auf die NATO eine verpaßte Gelegenheit, ja ein grundlegender Fehler. Diese Feststellung muß entsprechend für die Ausweitung der NATO nach Osten gelten. Militärbündnisse wie die Nordatlantik-Vertragsorganisation (NATO) oder die Westeuropäische Union (WEU) umschließen - mit oder ohne Osterweiterung - immer nur einen Teil des europäischen Kontinents. Sie führen die Spaltung Europas in sichere und unsichere, stabile und instabile Zonen fort. Konflikte außerhalb ihrer Grenzen können sie nicht präventiv bearbeiten, wie das Beispiel des vormaligen Jugoslawien zeigt. Sie haben anders als ein System Kollektiver Sicherheit nicht die Mittel und Mechanismen hierfür. Aber selbst Probleme zwischen den Partnern sind von Militärbündnissen kaum in den Griff zu bekommen, wie der Ägäis-Konflikt zwischen Türkei und Griechenland oder der seit Jahrzehnten fortdauernde Zypern-Konflikt illustrieren. Militärbündnisse sind dafür weder geschaffen noch ausgelegt. Darüber hinaus sind sie selbst ein latenter Faktor für Isolierungs- oder gar Bedrohungswahrnehmungen der von der Mitgliedschaft ausgeschlossenen Staaten. Gegen-Bündnisse, Rüstungseskalationen und Abschreckungsdenken können die Folge sein. Und wie die Realität zeigt: immer wieder Krieg.

Meine achte These lautet entsprechend: Ein System kollektiver Verteidigung kann ein System kollektiver Sicherheit nicht ersetzen. Es genügt auch nicht, wie es das Bundesverfassungsgericht in einem paradoxen obiter dictum vom 12. Juli 1994 getan hat, die NATO einfach in ein System kollektiver Sicherheit umzudeklarieren. Positiv formuliert heißt diese Kritik: Wer das obiter dictum des Bundesverfassungsgerichtes als Auftrag versteht, wer die Pariser Charta von 1990 und die ihr nachfolgenden Diskussionen ernst nimmt, wer schließlich den Epochenbruch von 1989 als einmalige Chance für Europa begreift, muß für Europa mehr wollen als das NATO-Europa in der bisherigen Form. Dies heißt im übrigen nicht, daß die NATO ihre bisherige Rolle mit Blick auf die transatlantischen Beziehungen aufgeben oder verlieren muß.

 

 

10. Plädoyer für ein regionales System Kollektiver Sicherheit nach Artikel 24 Grundgesetz

 

Wie muß nun eine europäische Sicherheitsordnung aussehen, die unter Berücksichtigung der angeführten Kritikpunkte diesen Namen auch wirklich verdient? Soll die historische Chance, die sich aus der "Zeitenwende" von 1989/90 ergeben hat, nicht völlig verspielt werden, muß das Sicherheitssystem in und für Europa, wie wir es haben, endlich vom Kopf auf Füße gestellt werden. Die Militärallianz NATO, deren Mitglieder nur ein Zehntel der Staatengemeinschaft dieser Welt ausmachen, geben über vier bis fünf Achtel der Weltmilitärausgaben aus. Es gelingt ihr gleichwohl nicht, Völkermord und Krieg in Europa zu verhüten. Was Europa dringend braucht - so meine neunte und vielleicht wichtigste These -, ist ein regionales System Kollektiver Sicherheit, wie es auch das deutsche Grundgesetz in Artikel 24 GG will und wie es auch die UN-Charta als regionale Einrichtung vorsieht. Die europäische Sicherheitsordnung ruht dann auf einer Rechtsordnung, die im Ordnungsfall keiner weiteren Mandatierung bedarf, sie besitzt ausreichende und effiziente Instrumente der vorbeugenden Krisenprävention und der friedlichen und zivilen Streitbeilegung ("Aggressor in einem bewaffneten Konflikt ist, wer sich dem Schiedsverfahren entzieht"), sie kann Aggressoren und Kriegsverbrecher verfolgen und vor Gericht stellen und sie besitzt (in Kooperation mit der NATO und der WEU) militärische Erzwingungsmittel, die als ultima ratio nicht der politischen Willkür Tür und Tor öffnen, sondern Ordnungsrecht folgen und gegebenenfalls wieder herstellen ("An die Stelle von Intervention tritt Ordnungsrecht").

 

 

11. Eine Europäische Sicherheitsgemeinschaft (ESG) - Vision und Wegweiser

 

Wie eine solche Alternative – "ein Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert", wie es die OSZE-Staaten in ihrer Diskussion der letzten Jahre nannten - im Detail aussehen könnte, hat das Hamburger Friedensforschungsinstitut (IFSH) über Jahre hinweg intensiv diskutiert. Die Überlegungen der Hamburger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind als Buch 1995 unter dem Titel "Die Europäische Sicherheitsgemeinschaft (ESG)" von der Stiftung Entwicklung und Frieden in Bonn veröffentlicht worden. Die englische Ausgabe ist 1996 erschienen. Die Details des Modellvorschlages sind also nachlesbar. Ich beschränke mich deshalb darauf, nochmals die Grundidee und die Aufgabenstellung der ESG zu benennen.

Die vom IFSH konzipierte und zur Diskussion vorgelegte Europäische Sicherheitsgemeinschaft (ESG) folgt der Grundidee nach der Vorstellung eines regionalen Systems Kollektiver Sicherheit. Sie funktioniert so, wie die Vereinten Nationen ihrer Gründungsabsicht zufolge funktionieren sollten, aber aus unterschiedlichen Gründen weder während des Kalten Krieges noch danach funktionieren konnten: nach dem Prinzip des konsequenten Einstehens der Gemeinschaft für die Sicherheit jedes einzelnen ihrer Mitglieder. Große wie kleine Staaten stehen unter gleichem Recht, erhalten gleiche Sicherheit, übernehmen gleiche Verpflichtungen. Die verläßliche Funktionsfähigkeit verlangt dazu einen begrenzten Schritt von der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu einem übernationalen Mechanismus; deshalb wird die Gewaltoption, die letzte Zuflucht des Rechts auf Sicherheit, aus der Verfügung der Einzelstaaten bzw. ständiger oder zeitweiliger Interessenkoalitionen in die Obhut der internationalen Rechtsgemeinschaft überführt.

Aufgabe der ESG ist es, in allen Fällen aktiv zu werden, in denen eine Friedensgefährdung, eine Friedensbedrohung, ein Friedensbruch oder eine Aggression vorliegt. Im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Gemeinschaft sind die Gemeinschaft und deren Mitglieder zum automatischen Beistand verpflichtet, gleichviel, ob der Aggressor Mitglied der ESG ist oder nicht. Im Falle innergesellschaftlicher Konflikte gewaltsamer Art in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ist die ESG dann zuständig, wenn sich diese Konflikte zu internationalen Streitigkeiten entwickeln oder zu entwickeln drohen. Sie ist ferner zuständig, wenn die Verpflichtung zur Achtung von Minderheiten- und Menschenrechten nicht eingehalten wird.

Betonen möchte ich an dieser Stelle nochmals, daß eine Idee oder gar ein Modellvorschlag keinesfalls mit der Realität verwechselt werden darf. Und doch bleibt es richtig, daß Politik, die gestalten will, Ideen und Modellvorstellungen als Wegweiser dringend benötigt. Schlechte Utopien und Illusionen sind das eine, dringend notwendige Visionen das andere. Der vormalige Bundespräsident Herzog wurde deshalb, wie er selbst formulierte, „nicht müde“, einerseits auf den Unterschied hinzuweisen, andererseits "den Zusammenhang von Vision und Realität zu betonen": "Im Gegensatz zu Utopien sind Visionen mühsam. Für den Eintritt einer Utopie ist niemand verantwortlich, weil sie gar nicht eintreten kann, für die Erfüllung von Visionen sind wir es selbst ... Visionen braucht der Mensch, wenn er menschenwürdig und verantwortlich leben will, und solche Visionen brauchen auch Völker und Staaten. Die Hoffnung, ja die Entschlossenheit, den Bereich von Frieden, Freiheit und Wohlstand zu erweitern, ist keine Utopie und sie ist nicht die schlechteste Vision, die Europa sich wählen kann."

 

 

12. Die Europäische Sicherheitsordnung als Rechtsordnung

 

Ich komme nun zu einigen rechtlichen Vorschlägen, die ich bitte als Operationalisierung der Vision unter Einbezug aktueller Probleme anzusehen: Die erste dieser Überlegungen bezieht sich auf die fehlende UN-Mandatierung des Kosovo-Krieges der NATO bzw. dessen - je nach Sicht - nicht gegebenen oder zumindest unzureichenden rechtlichen Grundlagen.

Nach dem, was ich bereits am bestehenden Sicherheitssystem kritisiert habe, was ich ferner als Definitionsmerkmale Kollektiver Sicherheit aufgezählt und als Elemente einer ESG vorgestellt habe, wird meine zehnte These nicht erstaunen. Sie lautet positiv formuliert: Eine Europäische Sicherheitsordnung, die funktionstüchtig, effektiv und auf Dauer stabil sein will, ist vor allem eine Rechtsordnung. An die Stelle des Rechts des Stärkeren muß in Europa die Stärke des Rechts treten. Oder negativ formuliert: Geht Macht vor Recht, so wird Recht zum Faustrecht. Und Macht, die vor Recht geht, verkommt zur Willkür. Dies ist die Beschreibung der friedens- und sicherheitspolitischen Realität, wie viele Menschen sie im Moment - das heißt vor, während und nach dem Kosovo-Krieg - in Europa wahrnehmen.

An dieser Stelle möchte ich nachdrücklich betonen, daß sich meine Kritik am Kosovo-Krieg nicht auf die grundsätzliche Frage der Intervention bei Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen bezieht. Im Gegenteil: Bereits 1975/76, zu einem Zeitpunkt als es noch keineswegs opportun war, habe ich in meiner allerersten Veröffentlichung überhaupt geschrieben, daß Frieden und Menschenrechte keine Gegensätze seien und sich das Völkerrecht weg vom bloßen Recht der Staaten zu einem Recht der Völker und Menschen entwickeln müsse. Insofern scheint mir übrigens der deutsche Begriff des Völkerrechts auch heute noch zutreffender als der angelsächsische des Internationalen Rechts. Um was es mir also geht, ist nicht die Frage der Intervention als solche, sondern das Problem der Willkür oder rechtlich gesehen: die Figur der Rechtsverläßlichkeit und der Rechtssicherheit.

Ich freue mich deshalb ganz besonders, daß auch die Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin ähnliche Überlegungen anstellt und zu den gleichen Schlußfolgerungen kommt. In ihrer Rede im Rahmen der Tagung des Institut de Droit International am 17. August 1999 in Berlin trug sie u.a. vor: "Gustav Radbruch, der bekannte deutsche Rechtsphilosoph und Reichsjustizminister, hat gesagt: 'Die Gerechtigkeit ist die zweite große Aufgabe des Rechts, die erste aber ist die Rechtssicherheit, der Friede'."

Und an anderer Stelle fährt die Bundesjustizministerin fort: "Wer den Frieden will, muß das Recht wollen, wer den internationalen Frieden will, muß das internationale Recht wollen. Wir haben die schrecklichen Bilder aus dem Kosovo und den von Krieg und Bürgerkrieg geschüttelten anderen Regionen der Welt vor Augen. Es geht darum, die Stärke des Rechts anstelle des Rechts des Stärkeren zu setzen."

Ich vermute, daß auch der zuletzt zitierte Satz wiedererkannt wird, ohne daß ich es gesondert betone. Die Stärke des Rechts an Stelle des Rechts des Stärkeren ist das Leitmotiv, unter dem das IFSH nicht zuletzt auch die ESG-Studie gestellt hatte.

Nach diesen Überlegungen komme ich nun zu zwei Vorschlägen, die unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung zwischen UNO und regionaler Einrichtung diskutiert werden können, aber auch als Lehren aus dem Kosovo unter dem Aspekt der Aggressorfeststellung einerseits und der strukturellen Kongruenz bei Hoheitsübertragungen andererseits gezogen werden können, schließlich aber auch als Konsequenzen aus den Bemühungen einer Reform der UNO selbst resultieren können. Die beiden Vorschläge betreffen die Rolle von Gerichten und Schiedsgerichten in einer Rechtsordnung als Sicherheitsordnung, inklusive der Frage der Mandatierung im Erzwingungsfalle sowie das brisante Problem des militärischen Beistandes durch regionale Einrichtungen.

 

 

13. Arbeitsteilung I: Internationale Gerichte und Schiedsgerichte

 

Gehen wir von der UN-Charta aus, so stellt nach Art. 39 der Sicherheitsrat fest "ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt". Zugleich gibt der Sicherheitsrat Empfehlungen ab. Nach Art. 40 UN-Charta beschließt der Sicherheitsrat vorläufige Maßnahmen; nach Art. 41ff. UN-Charta beschließt er diejenigen Maßnahmen, "die zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen". Diese Maßnahmen können nichtmilitärische, militärische oder kriegerische sein.

Folgt man der Charta der Vereinten Nationen, so agiert der Sicherheitsrat im Krisenfall auf zwei, gegebenenfalls auf drei Ebenen. Diese sind:

 

       - die Aggressions- und damit auch Aggressorfeststellung,

       - der Beschluß der erforderlichen Maßnahmen und

- ggf. die Durchführung der jeweiligen Maßnahmen.

 

Unter Demokratiegesichtspunkten ist eine solche Macht- und Gewaltenfülle "in einer Hand" sicherlich problematisch. Angesichts der Realität der Nationalstaaten und ihrer divergierenden Interessen ist hingegen - so auch meine elfte These - eher fraglich, ob die Effektivität und Funktionsfähigkeit des Sicherheitsrates in jeder Situation, also auch unter weniger günstigen Bedingungen gewährleistet ist. Mein nachdrücklicher Vorschlag ist deshalb, zu überlegen, ob nicht eine größere Arbeits- und Gewaltenteilung beiden Aspekten gerecht werden kann. Die "Aggressorfeststellung" z.B., also gerade eine der Fragen, an denen bislang ein effektives Funktionieren der UNO scheiterte, könnte über die institutionalisierte Möglichkeit zur obligatorischen friedlichen Streitbeilegung - sei es vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), sei es vor einem anderen internationalen Schiedsverfahren (auf den OSZE-Gerichtshof werde ich noch zu sprechen kommen) - zweifelsohne erfolgreicher geregelt werden. Nicht zufällig heißt es deshalb auch im Rahmen der Überlegungen zu einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft (ESG): "Aggressor ist, wer sich dem Gerichts- oder Schiedsverfahren entzieht!" Zweifelsohne besäße eine solchermaßen institutionalisierte und obligatorische Streitschlichtungsmöglichkeit außerhalb des Sicherheitsrates zugleich im Sinne der Gewaltenteilung eine höhere demokratische Legitimation als die bisherige Regelung.

Jegliche internationale Gerichtsbarkeit oder Schiedsgerichtsbarkeit macht allerdings nur dann Sinn, wenn ihre Entscheidungen für die Streitparteien verbindlich sind und "ohne Wenn und Aber" ausgeführt werden müssen. Andernfalls wird der Mechanismus zur Farce, die Institution ihres Prestiges beraubt und dem Gespött notorischer Friedensbrecher preisgegeben. Dies sieht im übrigen auch das deutsche Grundgesetz so, das in Artikel 24 eine obligatorische und rechtsverbindliche internationale Schiedsgerichtsbarkeit fordert.

In jedem Fall ist also dafür Sorge zu tragen, daß dem Spruch einer Gerichts- oder Schiedsinstanz auch gegen Widerstreben oder Widerstand Geltung verschafft werden kann. Erforderlich ist deshalb ein mit hinlänglichen Machtmitteln ausgestattetes SKS-Organ, das seine Exekution übernimmt, sei es mit Hilfe von eher indirekten Sanktionen, sei es durch massivere, der Rechtsdurchsetzung dienende Maßnahmen unmittelbaren Zwangs. Genutzt werden könnten -  wiederum im Sinne einer demokratischen Arbeits- und Gewaltenteilung - die bestehenden bzw. noch zu schaffenden regionalen Einrichtungen Kollektiver Sicherheit. Im übrigen sieht schon heute Art. 52 Abs. 2 UN-Charta vor, daß die Mitglieder der Vereinten Nationen von regionalen Abmachungen oder Einrichtungen Gebrauch machen, um "örtlich begrenzte Streitigkeiten durch Inanspruchnahme dieser regionalen Abmachungen oder Einrichtungen friedlich beizulegen, bevor sie den Sicherheitsrat damit befassen". Und im Absatz 3 dieser Norm heißt es weiter: „Der Sicherheitsrat wird die Entwicklung des Verfahrens fördern, örtlich begrenzte Streitigkeiten durch Inanspruchnahme dieser regionalen Abmachungen oder Einrichtungen friedlich beizulegen, sei es auf Veranlassung der beteiligten Staaten oder aufgrund von Überweisungen durch ihn selbst."

 

 

14. Arbeitsteilung II: Der Einsatz militärischer Mittel durch regionale Organisationen

 

Wie bereits die angeführten Normen zeigen, will Kapitel VIII der UN-Charta durchaus eine Arbeitsteilung des globalen und der regionalen Friedenssicherungssysteme. Zusammenfassend kann sogar festgehalten werden, daß die UN-Charta regionale Einrichtungen nicht nur akzeptiert, sondern durchaus fördert und unterstützt. Der Wortlaut des Artikel 52 Abs. 2 UN-Charta deutet ferner auf eine primäre Zuständigkeit der regionalen Abmachung/Einrichtung für Streitfälle in ihrem regionalen Bereich hin. Art. 52 Abs. 4 relativiert diese klare Zuständigkeitszuteilung allerdings etwas, indem er auf die Anwendung der Artikel 34 und 35 der Charta und damit auf das Untersuchungsrecht des Sicherheitsrates hinweist.

Nach Art. 53 Abs. 1 UN-Charta schließlich nimmt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen „gegebenenfalls diese regionalen Abmachungen oder Einrichtungen zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen mit seiner Autorität in Anspruch. Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates dürfen Zwangsmaßnahmen aufgrund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht ergriffen werden" (Hervorhebung - DSL).

Folgt man dieser Norm der Charta der Vereinten Nationen, so sind regionale Abmachungen und Einrichtungen kollektiver Sicherheit selbständig, wenn es um die friedliche Streitbeilegung, vermutlich auch, wenn es um die nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen geht. Unter dem Gesichtspunkt des Einsatzes militärischer Mittel sind sie für sich betrachtet jedoch kein selbständiges aliud zur kollektiven Selbstverteidigung bzw. zu regionalen Bündnissen der Selbstverteidigung, z.B. der NATO. Während ein regionaler Militärpakt im Sinne des Art. 51 UN-Charta militärisch autonom handeln kann (bis der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat), besitzt das regionale System Kollektiver Sicherheit diese Autonomie nicht. Militärische Zwangsmaßnahmen sind gemäß Art. 53 UN-Charta ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates verboten. Dem moralisch, rechtlich  und politisch auf einer höheren Ebene angesiedelten regionalen System Kollektiver Sicherheit ist also - so meine zwölfte These - in bizarrer Weise weniger erlaubt als den auf Konfrontation ausgerichteten bzw. an bestehenden Konfrontationen ausgerichteten Militärpakten. Dies muß sich rasch und nachdrücklich ändern.

Vom Status quo aus gesehen, kann sich der Einsatz von Streitkräften, darunter gegebenenfalls auch der Bundeswehr, im Rahmen eines Systems Kollektiver Sicherheit in und für Europa nach der Charta der Vereinten Nationen ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates also bislang nur jenseits militärischer Zwangsmaßnahmen bewegen. Nicht zu den militärischen Zwangsmaßnahmen gehören allerdings die sog. friedenserhaltenden Maßnahmen (peacekeeping operations).

Der militärische Beistand im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied des regionalen Sicherheitssystems ist (ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates) dagegen der regionalen Einrichtung als solcher - automatisch und obligatorisch - nur möglich, wenn das betreffende regionale System Kollektiver Sicherheit sich neben der Legitimation aus Kapitel VIII der UN-Charta über Völkervertragsrecht und unter Berufung auf Art. 51 UN-Charta als ein System Kollektiver Selbstverteidigung bindet. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) z.B. ist eine solche Einrichtung regionaler Art gem. Art. 52 UN-Charta, die zugleich eine Bündnisverpflichtung gem. Art. 51 UN-Charta vorsieht.

Mein erster Vorschlag im Rahmen meiner zwölften These ist also, eine solche "Bindung" zu schaffen, wobei ich im Moment noch offen lasse, welche regionale Einrichtung oder Einrichtungen in Europa in Frage kämen. Zuerst noch der Hinweis auf ein weiteres, nicht minder kompliziertes Rechtsproblem.

Was im Falle eines bewaffneten Angriffs auf zwischenstaatlicher Ebene über die Bindung an einen völkerrechtlichen Vertrag möglich ist, muß dagegen für den Fall innergesellschaftlicher Konflikte ausgeschlossen werden. Weder nach der Charta der Vereinten Nationen noch nach dem Grundgesetz kann und darf sich ein regionales Sicherheitssystem die Autonomie zur militärischen Intervention in einen innerstaatlichen Konflikt anmaßen - gleichgültig, ob es sich um einen regionalen Militärpakt oder um ein regionales System Kollektiver Sicherheit handelt, und gleichgültig, ob es sich um einen Konflikt handelt, der sich zu einer internationalen Streitigkeit zu entwickeln droht, oder nicht. Nach Art. 39 UN-Charta besitzt vielmehr allein der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Kompetenz festzustellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt und welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Eine militärische Intervention in innere Angelegenheiten ohne einen Beschluß des UN-Sicherheitsrates - müßte entsprechend als unzulässig und rechtswidrig angesehen werden. Aber auch dieses Problem läßt sich lösen: Vorstellbar ist zum einen ein entsprechender völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Partner der regionalen Abmachung. Er würde allerdings nur für die Vertragspartner gelten, wäre aber zweifelsohne ein Fortschritt im Vergleich zur jetzigen Lage. Denkbar wäre aber auch - im Rahmen der Reformbemühungen der UNO - eine dauerhafte Vorabübertragung eines entsprechenden Mandats durch die UN auf die jeweilige Regionalorganisation (ohne daß den Vereinten Nationen das Recht genommen wird, die Angelegenheit gegebenenfalls wieder an sich zu ziehen).

Um Mißverständnisse auszuschließen: Die regionale Einrichtung steht auch nach einer Vorabübertragung (Mandatierung) nicht in Konkurrenz zur UNO. Die regionale Einrichtung soll vielmehr in enger Kooperation und Abstimmung mit dem globalen System UNO diese Welt sicherer und friedlicher machen, indem sie in einem regional begrenzten Zuständigkeitsbereich mehr leistet als es die Vereinten Nationen derzeit können. In diese Richtung sollte meines Erachten die deutsche Politik nachdrücklich wirken. Im Idealfall hätten wir dann unter dem Dach der UNO eine Europäische Sicherheitsordnung, die beispielgebend auch für andere Regionen bzw. weitere regionale Abmachungen sein könnte. Mosaik für Mosaik, Region für Region, würde so das Bild einer neuen reformierten UNO zusammengefügt werden.

Ich begrüße deshalb sehr, was Bundesaußenminister Joschka Fischer kürzlich vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York gesagt hat. "Ein zweiter Ansatz, um das internationale System der Friedenssicherung effizienter zu gestalten, führt über Kapitel VIII der UN-Charta, nämlich über eine Stärkung der regionalen Sicherheitssysteme und eine Neu-Austarierung der Aufgaben und Kompetenzen zwischen diesen und der UN."

 

 

15. Stärkung der OSZE

 

Zu den regionalen Einrichtungen, von denen der Bundesaußenminister spricht, gehört nach meiner Ansicht die OSZE und zwar - so meine vorletzte These - an erster Stelle. Sie sollte - was im übrigen auch der erklärte Wille der Koalitionsvereinbarung ist - gestärkt werden. Die Frage, warum die OSZE (und nicht eine der anderen europäischen Institutionen) vorrangig gestärkt werden soll, erklärt sich aus einer Vielzahl von Gründen. Zu ihnen zähle ich u.a.:

 

-     die Größe der Teilnehmerzahl (55 Staaten), kein europäisches Land fehlt oder ist ausgeschlossen, "ungeteilte Sicherheit" wird möglich;

-     die Weite der geographischen Ausdehnung ("von Vancouver bis Wladiwostok"); über sie wird die OSZE zu einer Einrichtung der "nördlichen Hemisphäre";

-     die (Ein-)Bindung Nordamerikas an Europa jenseits von Militär und Rüstung (was gleichwohl den Blick auf das benannte Hegemonieproblem nicht verstellen darf);

-     die Breite des Sicherheitsverständnisses (umfassender Sicherheitsbegriff), die politische, militärische, wirtschaftliche, ökologische, humanitäre und andere Aspekte, darunter auch die Demokratisierungsfrage, einschließt;

-     der Charakter als regionale Abmachung nach Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen;

-     die Einheit von Normsetzungsinstitution und operativem Akteur.

 

Zu den Schwerpunkten bundesdeutscher Friedens- und Sicherheitspolitik könnte es deshalb in den nächsten Monaten gehören, konzeptionelle und operative Beiträge zur Ausarbeitung und Umsetzung von Vorschlägen zur Reform der OSZE vorzulegen. Die eingangs unter den Vorbemerkungen angeführten Bedenken sollten dabei mitdiskutiert und mitberücksichtigt werden. Zu diesen Vorschlägen sollte u.a. zählen:

 

-     die Schaffung einer völkerrechtlich verbindlichen Grundlage für die OSZE;

-     die Stärkung der Position und Erweiterung der Kompetenzen des OSZE-Generalsekretärs;

-     die Reformierung des OSZE-Gerichtshofes im Sinne eines obligatorischen und rechtsverbindlich entscheidenden (Schieds-) Gerichtshofes nach dem Vorbild des Artikel 24 Absatz 3 GG;

-     die Aufstellung von systemeigenen Friedenstruppen inklusive von Verfügungstruppen für den Generalsekretär sowie die Einrichtung eines Militärstabes;

-     die Einführung und rechtliche Verankerung des Prinzips "zuerst OSZE" (OSCE first) gegenüber insbesondere NATO und UNO.

 

 

16. Deutschlands Rolle: Führen und Dienen

 

Abschließend noch einige Überlegungen zu Deutschland. Welche Rolle kann oder soll Deutschland als das mächtigste Land Europas auf dem Weg zu einer dauerhaften Friedens- und Sicherheitsordnung in und für Europa übernehmen? Die Vormachts- und Führungsrolle?

Diese Frage mit einem "Ja" oder "Nein" zu beantworten, hieße die Realität ebenso wie die Geschichte Deutschlands zu leugnen. Neben Größe, Lage und Wirtschaftskraft gibt die deutsche Vergangenheit den Ausschlag für die Position und die Rolle, welche Deutschland in Europa gegenwärtig und auch künftig ein- und übernehmen kann.

Für Deutschland als stärkste Macht Europas - so meine letzte These - bedeutet dies zweierlei: zum einen Teilung der Führungsrolle, zum anderen "Führen durch Dienen".

Was heißt "Teilung der Führungsrolle"? Der Wille, ein geopolitisch definiertes Europa zu schaffen, findet sich außer in Deutschland gegenwärtig am stärksten in Frankreich. Die Bereitschaft ein regionales System Kollektiver Sicherheit in und für Europa zu bauen, war in Rußland zumindest lange vorhanden oder kann wiederbelebt werden. Nur im Schulterschluß von Frankreich und Deutschland und unter partnerschaftlicher, möglicherweise sogar gleichberechtigter Beteiligung Rußlands und anderer Staaten kann der Aufbau Europas gelingen, kann eine europäische Sicherheitsordnung funktionieren. Deutschland muß seine Führungsrolle deshalb mit Frankreich und Rußland teilen, muß dem Nachbarn im Westen insbesondere auch die militärische Vormacht überlassen. Gelingt in diesem Sinne ein Schulterschluß mit den genannten und weiteren Staaten, so kann vom Beginn einer wirklichen europäischen Sicherheitsarchitektur gesprochen werden.

Was heißt "Führen durch Dienen"? Die Antwort findet sich seit 50 Jahren im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und dessen Vielzahl bemerkenswerter Normen. Folgt man dem Grundgesetz der Bundesrepublik, so will "das deutsche Volk dem Frieden in der Welt dienen" (Präambel). "Dienen" heißt aus meiner Sicht "sich aktiv zur Verfügung zu stellen". Sich dem Frieden zur Verfügung zu stellen, beinhaltet wiederum die Bereitschaft, auch "Vorleistungen" zu erbringen, gegebenenfalls sogar (kurzfristig) "Nachteile in Kauf zu nehmen". Das aktive Moment in der Bedeutung von "dienen" schließt ferner ein Verständnis dieser Absichtserklärung im Sinne von "abwarten", "Ruhe bewahren", oder "anderen die Initiative überlassen" aus. Es verlangt vielmehr Engagement und Eigeninitiative vom "deutschen Volk" im Sinne einer stetigen und nachhaltigen Friedenspolitik mit dem Ziel der dauerhaften Abschaffung der Institution Krieg und dem dynamischen Aufbau gewaltfreier (internationaler) Strukturen. Versteht man "dienen" in diesem Sinne, so kann Deutschland bei der Verwirklichung des Zusammenwachsens Europas durchaus auch die "Schrittmacherrolle" übernehmen, sprich: Führung und Stärke zeigen, ohne in Widerspruch mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit, der Verfassung oder mit über die Jahre hinweg bewährten Verfahren der Einordnung und der Zurückhaltung zu geraten. "Führen" und "dienen" in diesem Sinne sind abermals Kehrseiten ein und derselben Medaille.

Die Möglichkeiten für Deutschland zu führen, um zu dienen, sind vielfältig und breit. Sie betreffen die finanzielle und rechtliche Stärkung der OSZE ebenso wie Initiativen der Abrüstung und insbesondere der präventiven Rüstungskontrolle, inklusive einseitiger Rüstungsbeschneidungen, ferner den Aufbau einer internationalen Polizei jenseits militärischer Streitkräfte, die Schaffung eines zivilen Hilfskorps als Mittel der Langzeitprävention, die vollständige Unterstellung der Bundeswehr unter multinationale militärische Führungsstrukturen, die Schaffung eines "Friedenspools" zur Koordinierung und Bereitstellung von personellen, materiellen und finanziellen Hilfen im Rahmen von Friedenskonsolidierung und Konfliktnachsorge, die Verschärfung der Exportbestimmungen für Kriegswaffen und militärische Ausrüstungsgüter, die finanzielle Unterstützung von Rüstungskonversionsmaßnahmen im In- und Ausland, die Bereitstellung von Embargo-Kapazitäten, die Schaffung eines Sanktions- bzw. Solidaritätsfonds und Vergleichbares mehr.

Vieles aus dieser keineswegs abschließenden Aufzählung findet sich als Absichtserklärung auch in der Koalitionsvereinbarung der gegenwärtigen Bundesregierung. Ihre Umsetzung steht bislang noch immer aus. Deutschland sollte endlich seine rechtverstandene Führungsrolle in und für Europa übernehmen: Dem Frieden dienen!