„Die EU-Mitgliedstaaten müssen aus ihren alten Fehlern in der Energiepolitik lernen. Die EU braucht eine gemeinsame Energieaußenpolitik, die auf Solidarität und einem kollektiven europäischen Sicherheitsinteresse beruht.“ (Dr. Aline Bartenstein)
Seit die EU-Mitgliedstaaten 2009 das letzte Mal selbst von dem Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland betroffen waren, hat Europas Abhängigkeit von russischem Gas nicht abgenommen. In diesem Kontext herrschten zwei Narrative über die Energiebeziehungen mit Russland vor. Einerseits wurde Russland als zuverlässiger Partner dargestellt, der nie die Absicht hegte, Gas als geopolitische Waffe einzusetzen. Andererseits wurde argumentiert, dass Energiepolitik immer auch Sicherheitspolitik sein müsse, da eine Krise zu ernsthaften Problemen bei der Beheizung von Wohnungen führen und nicht zuletzt die Wirtschaft hart treffen würde. Vor allem die osteuropäischen Staaten problematisierten die asymmetrische Interdependenz, die ihre Verwundbarkeit gegenüber Russland erhöhte. Asymmetrische Interdependenz liegt dann vor, wenn die Abhängigkeit einer Seite ungleich höher ist als von der anderen Seite.
Um eine weitere Gaskrise zu vermeiden und sicherzustellen, dass "wir unsere Energiezukunft voll und ganz unter Kontrolle haben", errichteten die Mitgliedstaaten die europäische Energieunion, um der Energiepolitik ein gemeinsames europäisches Dach zu geben.
In diesem Rahmen sollte der Gasbinnenmarkt weiter liberalisiert und die Infrastruktur ausgebaut werden. Außerdem sollten Abhängigkeiten durch eine stärkere Diversifizierung der Lieferanten und Transportwege verringert werden. Dahinter stand der Gedanke, dass die Mitgliedsstaaten ihre politischen Entscheidungen unabhängig von der russischen Energieversorgung treffen können sollten. Vorschläge für die Organisation eines gemeinsamen Gaseinkaufs wurden allerdings nicht gehört.
Trotz begrenzter Fortschritte bei der Stärkung der Energiesicherheit änderte sich die Versorgungslage nicht wesentlich, da russisches Gas über Nord Stream 1 unter Umgehung der früheren Haupttransitrouten über die Ukraine und Polen auf die EU-Märkte gelangte. Das Argument, dass die Pipelines Nord Stream 1 und 2 die Versorgungssicherheit stärken würden, stieß auf heftigen Widerstand, da der mögliche Einsatz von Energie als geopolitisches Druckmittel nicht ausreichend berücksichtigt werde. Die Folgen dieser Politik für die europäische Handlungsfähigkeit, die zum Teil auf die Vernachlässigung der Sorgen der osteuropäischen Staaten zurückzuführen sind, sind nun offensichtlich. Entscheidend ist aber, dass die Logik, der zufolge Russland ein verlässlicher Partner ist, nicht länger greift.
Der Ukraine-Krieg führt endgültig die Notwendigkeit einer europäischer Energiesouveränität vor Augen. Die Mitgliedstaaten - insbesondere diejenigen mit einer hohen Abhängigkeit von russischem Gas – sind in ihrem friedens- und sicherheitspolitischen Entscheidungsspielraum gegenüber Russland stark eingeschränkt. Eine "Zeitenwende" würde konsequent zu Ende gedacht bedeuten, nationale Egoismen hinter sich zu lassen und endlich eine gemeinsame Energieaußenpolitik zu betreiben, die auf Solidarität und einem kollektiven europäischen Sicherheitsinteresse beruht.