26.04.2013
Matenia Sirseloudi
Am 15. April wurden bei einem Anschlag auf den Marathon in Boston drei Menschen getötet und 183 weitere verletzt. Während man noch direkt nach der Tat, wie David Sirota schreibt, hoffen konnte, dass der Attentäter ein „weißer Mann“ sei, da militant-dschihadistisch motivierte Täter eine Welle der Islamophobie in den USA auslösen könnten, hat sich mittlerweile der Verdacht erhärtet, dass es sich bei den Attentätern um zwei dschihadistisch motivierte junge Amerikaner tschetschenisch-dagestanischer Herkunft handelt.
Nun fragt man sich überall auf der Welt, wie es dazu kommen konnte, dass Tamerlan und Dzhokar Tsarnaev sich zu skrupellosen Staatsfeinden entwickelten, die im Namen einer radikalen Ideologie so weit gingen, gezielt unschuldige Zivilisten bei einem Sportereignis zu töten. Die amerikanischen Sicherheitskräfte sind dabei vor allem an der Frage interessiert, ob es sich bei den beiden um Einzeltäter, sogenannte „lone wolves“, handelt, oder ob der Anschlag im Auftrag einer größeren international agierenden Terrororganisation verübt wurde. Immerhin wurde bekannt, dass Russland 2011 bei den amerikanischen Sicherheitsbehörden Informationen über die Brüder eingeholt hat, weil man sie dort als islamistische Extremisten einschätzte, die planten in kaukasische Kampfgebiete einzureisen.
Sollte der ältere der Brüder Tamerlan Tsarnaev militärisches Training und Indoktrination während seines sechsmonatigen Aufenthalts in Dagestan im Jahr 2012 erhalten haben, so wäre die Vilayat Dagestan des Kaukasusemirats die Gruppierung, die hierfür am ehesten infrage käme, da es die dominierende dschihadistische Gruppe in der Region ist. Diese Gruppe publizierte derweil eine Verlautbarung zu den Bostoner Anschlägen und bezieht sich dabei auf die „Spekulationen“ der amerikanischen Presse, dass einer der Attentäter Mitglied der dagestanischen Mudschaheddin sei. Vilayat Dagestan bestreitet die Verbindung zu Tsarnaev zwar nicht, bestätigt allerdings auch nicht, dass er ihnen schon vor den Anschlägen bekannt gewesen sei. Aber die Gruppe hebt hervor, dass man „Krieg gegen Russland und nicht gegen die USA führe“. Des Weiteren seien „der Anweisung von Doku Umarov, dem kaukasischen Emir, zufolge Anschläge auf zivile Ziele untersagt“. Diese Zurückhaltung des Terrorchefs geht auf einen Richtungswechsel der Gruppe zurück, der eingeleitet wurde, um nach der Geiselnahme von Beslan und den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn den Rückhalt in der Bevölkerung nicht zu verlieren. 2007 noch verkündete Umarov bei der Gründung des Kaukasusemirats: „All jene, die Muslime angegriffen haben, wo diese auch sein mögen, sind unsere gemeinsamen Feinde. Unser Feind ist nicht nur Russland, sondern auch Amerika, Großbritannien, Israel und alle, die einen Krieg gegen den Islam und die Muslime führen.“ Diese internationalistische Ausrichtung spiegelt sich in den transnationalen Verbindungen des Kaukasusemirats zu Gruppen wie al-Qaida wider sowie in einem großen Engagement tschetschenisch-dagestanischer Foreign Fighter weltweit – sei dies nun in Afghanistan, im Irak, in Syrien oder in anderen Kampfgebieten.
Welche Rolle die Tsarnaev-Brüder im Kalkül des Kaukasusemirats spielen, wird wohl noch eine Weile spekulativ bleiben; dass aber radikalislamistische Videopropaganda, insbesondere russischsprachige, eine radikalisierende Wirkung auf die beiden jungen Männer hatte, ist anzunehmen. Ähnlich wie es auch bei dem Frankfurter Flughafenattentäter Arid Uka der Fall war, der sich über dschihadistische Propaganda mit Bezug zu US-amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak radikalisierte, scheinen auch hier Kriegsbilder aus aktuellen Konflikten eine relevante Rolle gespielt zu haben. Von seiner aus Sicherheitskreisen wohl freigegebenen Website „Djohar Tsarnaev“ im russischen Online-Netzwerk vk.com aus gelangt man, wenn man einem der drei geposteten Videos, das mit russischen Untertiteln unterlegt, explizit und anschaulich den militant-dschihadistischen Kampf in Syrien verherrlicht, auf der Videoplattform youtube.com folgt, sehr schnell tief in militant-dschihadistische Propaganda aus dem Nordkaukasus. Diese auch von seinem älteren Bruder rezipierte und verbreitete Propaganda ist unter anderem für ihre Brutalität bekannt, so sind hier auch Köpfungsvideos gängig, für deren Verbreitung man in Deutschland verurteilt werden würde.
Auf eine militant-islamistische Motivation der Attentäter von Boston deutet auch die verwendete „Dampfkochtopfbombe“ hin, die durchaus nach der Anleitung aus dem englischsprachigen Dschihad-Magazin „Inspire“ gebaut sein könnte. In der ersten Ausgabe des vom jemenitischen Arm al-Qaidas veröffentlichten Online-Dschihad-Magazins war eine detaillierte Anleitung zu finden, wie aus einem Dampfkochtopf eine Bombe herzustellen sei unter dem Titel „Make a bomb in the kitchen of your mom“. „The pressurized cooker is the most effective method“ steht da und es wird beschrieben, wie der Kochtopf mit Granatsplittern und Schwarzpulver gefüllt werden soll und wie mit dem Glühfaden einer Glühbirne und einem Wecker ein Zünder hergestellt werden kann. „Inspire“ veröffentlichte eine ganze Serie solcher Trainingsartikel unter dem Titel „Open Source Jihad“, um Einzeltäter bei ihrer Anschlagsplanung zu unterstützen. In einer der Ausgaben des letzten Jahres wurde ein älterer Artikel des syrischen Dschihad-Veteranen Abu Musab al Suri abgedruckt, der in einer Liste möglicher Anschlagsziele auch belebte Sportarenen sowie jährlich wiederkehrende soziale Ereignisse aufzählt.
Warum nun solche Propaganda bei manchen Menschen auf fruchtbaren Boden fällt, ist eines der derzeit stark diskutierten Felder in der Terrorismus- und Radikalisierungsforschung, das auch im TERAS-INDEX-Konsortium, das am IFSH koordiniert wird, erforscht wird. Von Bedeutung ist hierbei der „Referenzort kollektiver Identität“, das heißt der Ort und die Gemeinschaft, mit der sich ein Individuum identifiziert und dem bzw. der es sich zugehörig fühlt. Gerade bei hybriden Identitätskonstellationen, in denen man, wie zum Beispiel in Diaspora- oder Exilsituationen, zu mehreren Kollektiven und Territorien Loyalitäten und Bezüge entwickelt, wird eine eindeutige Zugehörigkeit und kollektive Identität zu entsprechenden Gemeinschaften oft vom Individuum gesucht und gegebenenfalls konstruiert. Dieser „Referenzort kollektiver Identität“ kann auch in der globalen – virtuellen ebenso wie realen – dschihadistischen Gemeinschaft gefunden werden. Auf dem so eingeschlagenen Radikalisierungspfad spielen Herkunft, Konflikterfahrung, konkrete Beziehungszusammenhänge und Gruppendynamiken, vielleicht sogar Kontakte zu militanten Dschihadisten eine Rolle. Doch nicht nur die reale Welt ist von Bedeutung, denn immer wichtiger wird für viele Menschen auch die virtuelle Welt des Internets, die Nähe unabhängig von geografischen Zwängen suggeriert und neue Bedeutungszusammenhänge eröffnet, wie sie unter anderem auch von dschihadistisch motivierter Propaganda transportiert werden. Solche eher durch Propaganda selbst radikalisierte, in kleinen Zellen operierende, mit selbst-gebastelten Bomben angreifende Täter reichen an die logistisch-organisatorischen Kapazitäten einer 2001 noch hierarchisch strukturierten al-Qaida nicht heran. Das terroristische Kalkül aber, der Schrecken aus dem Untergrund, der willkürlich ist, jeden treffen könnte und den angegriffenen Staat zur Gegenreaktion provoziert, funktioniert auch mit weniger Aufwand als bei den Anschlägen des 9/11. Opferzahl und materieller Schaden hingegen stehen in einem ganz anderen Größenverhältnis.
Da Terrorismus aber, um erfolgreich zu sein, immer auch von der Reaktion des angegriffenen Staates abhängt, wird zunächst genau zu beobachten sein, was die USA aus ihren Erfahrungen im sogenanten Global War on Terrorism der letzten Jahre gelernt haben. Die erste Reaktion, der Entzug des Aussageverweigerungsrechts (Miranda rights) für den verhafteten jüngeren Dzhokar Tsarnaev, löste bereits eine heftige Diskussion um bürgerliche Freiheiten aus. Neben der rechtsstaatlichen Verurteilung und Bestrafung des Täters aber gilt es nun vor allem, in der US-amerikanischen Bevölkerung eine gewisse Resilienz gegenüber Polarisierungstendenzen zu schaffen, da bereits in den ersten Tagen nach der Tat islamophobe Gewalt zugenommen hat, was wiederum der Anstoss für die nächsten Attentäter sein könnte, die ausgeschlossen werden und sich auf dem Weg der Entsolidarisierung mit den USA den Feinden der vielleicht doch nicht so offenen Gesellschaft zuwenden.
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