Bedeutender Abrüstungsvertrag INF droht zu platzen: Mögliche Konsequenzen und Auswege aus der Krise

Bei einer Wahlkampfveranstaltung am 21. Oktober 2018 hat U.S. Präsident Donald Trump angekündigt, den „Intermediate Range Nuclear Forces“-Vertrag, kurz INF-Vertrag, nun „zu beenden“. Eine Stellungnahme von Prof. Dr. Götz Neuneck, stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH):

Dies wäre der dritte schwere Schlag gegen die globale Rüstungskontrollarchitektur. Bereits 2002 hatte der damalige US-Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag gekündigt. Im Mai dieses Jahres stieg Trump aus dem Iran-Abkommen aus. Diesmal ließ der US-Präsident allerdings ein „Hintertürchen“ offen. Er forderte Russland und China auf, auf die USA zuzugehen, damit „keiner solche Waffen entwickeln müsste“.

Die Gründe für Trumps Entscheidung: Er wirft Russland vor, den INF-Vertrag zu verletzen. Zudem fühlen sich die USA durch die Aufrüstung im asiatischen Raum bedroht. Insbesondere China, das nicht Mitglied des INF-Vertrages ist, wird als potenzieller Aggressor gesehen. Auch entwickeln und testen andere Staaten ballistische Mittelstreckensysteme und Marschflugkörper, etwa Indien, Pakistan oder Iran. Eine Universalisierung des INF-Vertrages wurde von den USA und Russland in der Vergangenheit halbherzig betrieben und war bisher nicht erfolgreich.

Seit 2014 wirft die US-Regierung Russland vor, unter Verletzung des INF-Vertrages einen neuen landgestützten Marschflugkörper getestet zu haben, den sogenannten SSC 8 oder 9M729. Inzwischen gehen die USA davon aus, dass Russland mit der Stationierung begonnen hat. Belastbare Quellen gibt es dazu allerdings nicht, zumindest nicht öffentlich. Russland weist den Vorwurf kategorisch zurück und erhebt Gegenvorwürfe. So seien z.B. die Startkanister der NATO-Raketenabwehr in Polen und Rumänien, die sogenannten Mk-41, auch für die Stationierung von offensiven US-Marschflugkörpern geeignet. Beide Anklagen konnten bisher nicht ausgeräumt werden, obwohl seit längerem Vorschläge für gegenseitige Inspektionen diskutiert werden [1].

Auch China verfügt über ein wachsendes Arsenal von Raketen im INF-Reichweitenspektrum in Asien. John Bolton, Trumps neuer Sicherheitsberater, tritt seit längerem dafür ein, auch der chinesischen Aufrüstung zu begegnen. Ernsthafte Versuche, die nukleare Aufrüstung in Asien einzuhegen sind, mit Ausnahme von Nordkorea, bisher allerdings nicht gemacht worden.

Dieser unnötige und fatale Schritt ist offensichtlich unter dem Einfluss von Sicherheitsberater John Bolton zustande gekommen und weicht von der bisherigen INF-Strategie des Pentagon ab [2]. Für Europa könnte dieser Schritt bedeuten, dass es zu einem erneuten Wettrüsten auf dem Kontinent kommt. Der US-Kongress hat bereits Budgetentscheidungen für die Entwicklung boden-, luft- und seegestützter INF-Systeme getroffen. Auch Russland wird nachgesagt, vor allem in Kaliningrad verstärkt ballistische Flugkörper, die sogenannten „Iskander-Raketen“ (500km Reichweite), zu stationieren. Die negativen Erfahrungen der damaligen NATO-Nachrüstungsdebatte könnten wiederaufleben. Nach Aussagen hochrangiger amerikanischer Generäle ist die Entwicklung bodengestützter INF-Systeme militärisch nicht notwendig. Potenzielle Ziele sind auch mit dem umfangreichen Arsenal von see- und luftgestützten Flugkörpern erreichbar, die der INF-Vertrag nicht verbietet.

Zudem wäre die Beendigung der strategischen nuklearen Rüstungskontrolle wahrscheinlich. Denn ein Nachfolgevertrag für den 2021 auslaufenden New START-Vertrag wäre mit dem US Kongress kaum machbar, wenn sich die Sicht durchsetzt, dass Russland stets Rüstungskontrollverträge verletzt. Argumente, die europäische Raketenabwehr in Europa gegen Russland auszubauen, erhielten ebenfalls neue Nahrung.

Nach Aussagen des russischen Außenministers Sergey Lavrov besteht Hoffnung, dass es „noch Raum für Dialog“ gibt. John Bolton hält sich zu diesem Zweck in Moskau auf. Eine Beendigung von INF nach 30 Jahren ist zum jetzigen Zeitpunkt gefährlich und in mehrfacher Hinsicht kontraproduktiv:

1. Ein Rückzug der USA wird Russland nicht automatisch zur Vertragseinhaltung zwingen. Durch die Aufkündigung des Vertrages haben die USA keine Möglichkeiten mehr, durch Verifikation zu überprüfen, ob Russland den Vertrag verletzt.

 2. Der Zusammenbruch des INF-Vertrages ermöglicht, dass diejenigen Kräfte in Russland gestärkt werden, die neue INF-Systeme in großen Zahlen produzieren und stationieren wollen. Dies könnte zusätzlich europäische Städte nuklear bedrohen. Zudem wären auch Angriffe mit konventionellen Waffensystemen möglich, etwa gegen Ziele im Baltikum oder in Osteuropa.

3. Damit wäre auch eine Unterscheidung zwischen konventionellen und nuklearen Trägersystemen aufgehoben. Dies hätte unabsehbare Konsequenzen für die Krisenstabilität und könnte ein neues Wettrüsten von INF-Systemen unter Einbeziehung neuer Raketenabwehr in Europa provozieren.

4. Die 29 NATO-Staaten haben bisher stets auf den Erhalt des INF-Vertrags verwiesen. Sollten neue INF-Systeme durch die USA entwickelt werden, wären die europäischen NATO-Staaten potenzielle Stationierungsländer. Deshalb sind die europäischen NATO-Staaten gefordert, ihre Position dazu zu klären und nicht die Entscheidungen dem US-Kongress zu überlassen. Denn die Folge wären massive Proteste in europäischen Städten. Zudem ist zweifelhaft, ob alle Regierungen in Europa eine Neustationierung von Nuklearwaffen in Europa überhaupt zulassen. Eine Stationierungsentscheidung bedarf der Einbindung und Zustimmung aller NATO-Staaten.

5. Sollte der INF-Vertrag wegfallen, wäre der N-START-Vertrag das einzig verbleibende Abkommen, das beide nuklearen Supermächte dazu verpflichtet, ihre strategischen Nukleararsenale transparent und überprüfbar zu begrenzen.

 

Mögliche Lösungen:

Schon seit Jahren erarbeiten Experten Lösungen für die schwere INF-Krise. Ihre Vorschläge sind bereits in Washington und Moskau umfangreich und hochrangig diskutiert worden.

 1. Ein weiteres Mal wird durch die USA ein Rüstungskontrollabkommen basierend auf nicht-überprüfbaren Geheimdienstinformation bei Trägersystemen mit Massenvernichtungswaffen einseitig gekündigt. Aus technischer Perspektive muss betont werden, dass eine Reichweitenbestimmung bei Marschflugkörpern schwieriger ist als bei ballistischen Raketen. Eine unabhängige Prüfung oder eine Diskussion, z.B. im UN-Sicherheitsrat, hat nicht stattgefunden.

2. Eine Verletzung seitens Russlands könnte dennoch vorliegen, wäre aber im Prinzip durch den Austausch von technischen Informationen, Inspektionen oder einer Demonstrationsübung des potenziellen Marschflugkörpers 9M729 lösbar. Dies setzt allerdings einen Kooperationsgrad zwischen den USA und Russland voraus, der angesichts der schweren Vertrauenskrise zwischen Russland und dem Westen im Augenblick nicht vorhanden ist. Es ist äußerst beunruhigend, dass Russland letztlich zu den Anschuldigungen schweigt und keine Informationen vorlegt, die zeigen, dass der Marschflugkörper 9M729 vertragskompatibel ist.

3. Die europäischen NATO-Verbündeten sollten durch eine klare Stellungnahme verdeutlichen, dass ihnen erstens zentral am Erhalt des INF-Vertrages gelegen ist, eine Neustationierung von Nuklearwaffen in Europa nicht in Frage kommt und zweitens, dass Russland seine Stationierungsorte und verdächtigen INF-Systeme für Inspektionen und Datenaustausch öffnet und eine Überprüfung durch europäische Inspekteure zulässt.

4. Deutschland könnte demnächst als nicht ständiges UN-Sicherheitsratsmitglied die Krise der weltweiten nuklearen Abrüstung wieder auf die Tagesordnung bringen und ein Sondertreffen zum Stand von Rüstungskontrolle und Abrüstung initiieren.

5. Begrenzende, überprüfbare globale Regelungen für Rüstungskontrollregelungen bei luft- und seegestützten Marschflugkörpern sind bisher nicht vorhanden. Neue konventionell bestückte Trägersysteme wie treffergenaue Marschflugkörper, Überschallgleitflugkörper und die strategische Raketenabwehr können in Zukunft eine ernste Bedrohung für die Nuklearwaffenstaaten NWS und die strategische Stabilität bilden und müssen bei künftigen Rüstungskontrollabkommen ebenso Berücksichtigung finden wie strategische Marschflugkörper.

6. Außerdem ist entscheidend, dass die USA und Russland wieder zu einem kontinuierlichen und strukturierten Dialog zur „strategischen Stabilität ihrer Nuklearstreitkräfte“ zurückkehren, der u.a. die Verlängerung des N-START-Vertrages beinhaltet. Ebendies hatten Trump und Putin auf dem Helsinki-Gipfel angekündigt. Andernfalls würden beide Nuklearmächte mit leeren Händen bei der nächsten Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages NVV im Jahre 2020 auftreten. Der Art. VI. des NVV verpflichtet die Nuklearwaffenstaaten “in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung (…) unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

 

Zum Hintergrund:

Der „Intermediate Range Nuclear Forces“ (INF) Vertrag gilt als zentrales, erfolgreich umgesetztes Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland und als „Eckstein“ nuklearer Rüstungskontrolle. Er wurde 1987 durch die Präsidenten Michael Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet und galt als entscheidender Durchbruch am Ende des Kalten Krieges. Er ist für die europäische Sicherheit von zentraler Bedeutung. Die NATO-Verteidigungsminister bezeichneten den Vertrag bei ihrem letzten Treffen als „essentiell“ für die euroatlantische Sicherheit“. Der INF-Vertrag verbietet die Entwicklung, das Testen und die Produktion von landgestützten Mittelstreckensystemen (Reichweite 500 bis 5.500km), woran sich beide Seiten fast 30 Jahre lang gehalten haben. Unter gegenseitiger Überprüfung wurden 2.700 INF-Systeme samt Startanlagen vernichtet, was die nukleare Bedrohung in Europa dramatisch verringerte und das Ende eines gefährlichen und teuren Wettrüstens zwischen den damaligen Supermächten einleitete. Zwei Kategorien von Nuklearwaffen, landgestützte Marschflugkörper und ballistische Raketen der USA und Russlands, wurden komplett zerstört.

[1] Hans Kristensen,  Oliver Meier, Victor Mizin and Steven Pifer (with assistance from Alicia Sanders-Zakre): Preserving the INF Treaty,  A Special Briefing Paper April 24, 2017. Link

[2] Siehe dazu: Daryl Kimball, Kingston Reif: Trump’s Counterproductive Decision to “Terminate” the INF Treaty, in: Arms Control Association Vol. 10(9) 2018, Issue Brief. Link

 

Für Rückfragen und Interviews steht Ihnen gerne der Autor zur Verfügung unter: Neuneck@ifsh.de