In die Suche nach einer Nachkriegsordnung für Syrien scheint Bewegung zu kommen. Trump traf sich mit Putin in Helsinki, Russlands Außenminister und Generalstabschef weilten in geheimer Mission in Berlin, Merkel traf letzten Samstag Putin in Meseberg, Erdogan telefonierte mit Macron und am 7. Oktober ist ein Treffen zwischen Merkel, Macron, Putin und Erdogan vorgesehen. Es geht unter anderem darum, Wege für eine syrische Nachkriegsordnung auszuloten. Notwendig wäre eine solche Ordnung allemal.
Erstens geht es um die Beendigung eines Krieges, der eine der größten humanitären Katastrophen der jüngeren Vergangenheit ist. Die Schäden summieren sich auf 334 Mrd. Euro, mehr als 350.000 Menschen wurden getötet. Zweitens: Die Hälfte der Bevölkerung musste fliehen, die meisten innerhalb des Landes oder in die Region. Ein kleinerer Teil kam nach Europa. Das birgt destabilisierende Gefahren für die Hauptaufnahmeländer vor Ort, aber auch für Europa. Drittens besteht die Gefahr, dass die Nuklearmächte USA und Russland aneinandergeraten, denn beide sind im Lande militärisch präsent. Viertens geht es darum, einen der vielen Brandherde im Nahen Osten zu befrieden, bevor er sich zu einem Flächenbrand ausweitet.
Die Chancen für eine Friedensregelung sind nicht gut, aber besser als zuvor. Denn die Lage hat sich verändert. Assad kontrolliert Dank iranischer und russischer Unterstützung wieder große Teile des Landes. Das heißt nicht, dass die vielen bewaffneten Gruppen endgültig besiegt sind. Aber er kann jetzt aus einer Position relativer Stärke verhandeln. Moskau hat seine Ziele weitgehend erreicht. Der ursprünglich von den westlichen Staaten angestrebte Regimewechsel wurde verhindert und die eigene Position gestärkt.
Die USA konzentrieren sich ganz auf den Kampf gegen den IS und vor allem auf den Iran. Trump hat die militärische Unterstützung der Gegner Assads durch die CIA bereits letztes Jahr eingestellt. US-Militärs sind im Nordosten Syriens präsent und unterstützen dort – zusammen mit französischen Spezialkräften – die kurdische YPG. Die involvierten Regionalmächte haben mittlerweile andere Probleme. Saudi-Arabien ringt mit einer inneren Reform und ist tief in den von ihm selbst angestifteten Krieg im Jemen verstrickt. Sein Hauptgegner Iran kämpft mit großen internen Problemen und wird von außen durch eine saudisch-amerikanisch-israelische Koalition unter Druck gesetzt.
Die Türkei ringt mit einer Währungskrise, die sich zu einer Wirtschaftskrise auswachsen könnte. Sie hat ihre strategische Position in der syrischen Region Idlib gestärkt. Offen ist noch, was aus den beiden Rebellengruppen wird, die sich dort bekämpfen: die von der Türkei unterstützte Freie Syrische Armee (FSA) und die ehemalige Al Nusra-Front HTS. In letzterer sind Kämpfer aus dem Kaukasus aktiv, die Russland auf jeden Fall ausschalten will. Assads Armee geht seit einigen Tagen militärisch gegen die HTS vor. Sollte sie auch die FSA angreifen, würde das russisch-türkische Bündnis gefährdet.
In dieser veränderten Gemengelage versuchen nun Berlin, Paris, Moskau und Ankara Schritte zu einer Konfliktregelung zu erkunden. Deutschland und Frankreich wollen auf jeden Fall eine neue Massenflucht verhindern. Russland will die Ernte seines militärischen Engagements in Syrien einfahren und seine Truppen nach Hause holen. Das Syrienengagement ist nämlich mittlerweile in Russland sehr unbeliebt. Die türkische Währung befindet sich im Sinkflug und Erdogan braucht dringend Unterstützung. Zum IWF will und kann er wegen der USA auch nicht. Bleiben also Katar und die EU.
Deutschland und Frankreich geht es aber nicht nur um Syrien. Europa kann sich weder eine Destabilisierung der Türkei noch Russlands leisten. Genau diese nehmen die USA durch ihre Sanktionspolitik aber in Kauf. Beide Länder werden zwar von Autokraten regiert, die schon für viel Ungemach gesorgt haben. Doch geht es darum, auf der Grundlage gemeinsamer Interessen (z.B. Flüchtlinge, Nord Stream 2, Atomabkommen mit Iran oder regionale Sicherheit) nach Lösungen für Probleme zu suchen, die alle angehen. Früher nannte man das Politik gemeinsamer Sicherheit.
Die Vorbereitungen für die Nachkriegszeit in Syrien haben begonnen. Im April fand eine Geberkonferenz in Brüssel statt, weitere werden folgen. Auch die territorialen Claims scheinen abgesteckt: im Nordosten eine kurdisch dominierte Region, westlich davon eine unter türkischen Einfluss, im Süden Sicherheitszusagen für Israel mit einem Golan frei von Iran-freundlichen Milizen. Syrien bliebe als Staat erhalten, ob und wie föderalisiert muss sich zeigen. Die skizzierte Entwicklung entspricht einem Trend im Umgang mit Gewaltkonflikten: Ging es in den US-amerikanisch dominierten Jahren nach 1989 noch vorrangig um Machtteilung und Demokratisierung, ist im mittlerweile angebrochenen multipolaren Zeitalter das Ziel der Stabilität in den Vordergrund gerückt. In diesen Trend fügen sich die Aktivitäten von Deutschland, Frankreich, Russland und der Türkei ein. Es ist sinnvoll, sich jenseits ideologischer Differenzen auf die gemeinsamen Interessen zu konzentrieren. Die Absprachen der vier können zwar keine stabile Nachkriegsordnung für Syrien schaffen, aber vielleicht den Weg dorthin erleichtern.
Dr. Hans-Georg Ehrhart, Leiter ZEUS am IFSH
Dieser Beitrag ist in leicht veränderter Fassung in der aktuellen Ausgbe der Wochenzeitung „Der Freitag“ erschienen.