Das globale Interregnum und die NATO-Forschung im Wandel der Zeit

Dr. Cornelia Baciu

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Globale Transformationsprozesse, die Krise des Multilateralismus sowie der Rückgang demokratischer Werte erfordern es, die Ausrichtung zentraler Sicherheitsinstitutionen wie der NATO neu zu betrachten. Gerade die Prinzipien der kollektiven Sicherheit und der kollektiven Verteidigung stellen wesentliche Bestandteile der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit dar. Beide basieren auf gemeinsamem Handeln, auch durch den Einsatz militärischer Mittel im Fall von Friedensbrüchen oder Aggressionen.

Die Forschung zur NATO von der Nachkriegszeit bis zum Ende des Kalten Kriegs weist viele Parallelen zu gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatten auf. So finden wir bereits in frühen Ausgaben der American Academy of Political and Social Sciences von 1953 (Ausgabe 288) sowie 1964 (Ausgabe 351) Abhandlungen zu NATO-Themen, die auch heute noch relevant sind. Diese untersuchen andauernde Kontroversen der Command&Control im nuklearen Bereich im Rahmen einer multilateralen NATO, die Großmacht China und die Formosa (Taiwan)-Problematik sowie das Potential für Konflikte vor dem Hintergrund einer Welt mit immer mehr politischen Akteuren.   

Ontologische Fragestellungen zur NATO wurden Ende der 60er Jahre vom U.S.-amerikanischen Außenminister Henry Kissinger erforscht (‚NATO: Evolution or Decline‘, 1966, The Texas Quartely 9: 3). Vor dem Hintergrund der Détente-Politik gegenüber der Sowjetunion (1967-1974) sowie nach dem Rückzug Frankreichs aus der integrierten Militärstruktur 1967, ging es Ende 70er und Anfang der 80er Jahre in der NATO-Forschung intensiv um die zukünftige inhaltliche Ausrichtung der Organisation.

Die inhaltliche Orientierung der NATO-Forschung während der 80er Jahre orientierte sich inhaltlich erneut an kontroversen Themen wie dem Management des atomaren Dilemmas, dem spanischen Referendum oder „moralischen Fragen“ (Abshire 1984), aber auch an Abschreckung und Krisenmanagement im Kontext der bevorstehenden Auflösung der Sowjetunion. Europäisierungsprozesse, Lastenverteilung, Komplementarität und ‚Free-riding‘ (vgl. den Aufsatz von Murdoch und Sandler im Journal of Public Economics, 1984) waren ebenfalls Teil der akademischen Debatten über die NATO. Dies obwohl im Zeitraum vom Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre die europäischen NATO-Verbündeten im Durchschnitt 3,7 Prozent vom BIP für Verteidigung ausgaben und damit in prozentualen Angaben deutlich mehr als heute.

Die Mächtegleichgewichtstheorie der Internationalen Beziehungen prognostizierte das Ende der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges. In seinem berühmten Aufsatz in International Organization 1996 erklärte Robert McCalla das Fortbestehen des Bündnisses durch die Ausdehnung der Ziele – wie z. B. die Einführung der Kooperativen Sicherheit und des Krisenmanagements als zentrale Aufgaben neben kollektiver Verteidigung, aber auch durch das Wachstum der Organisation. Andere Ansätze erklären das Weiterbestehen der NATO mit der Entstehung einer Gemeinschaft, die auf geteilten Normen basiert und die über ein rein militärisches Bündnis hinausgeht.

Viele Felder der NATO-Forschung vor 1989 sind auch nach der Jahrtausendwende noch aktuell. Konkret beschäftigte sich die NATO-Forschung im neuen Millennium mit den Einsätzen im Bosnienkrieg, im Kosovo oder in Afghanistan sowie mit der Rolle der NATO zur Verteidigung Europas. Dabei rückte vor allem die Überlappung zwischen den Aufgabenfeldern der europäischen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO in den Fokus. Auch neue Themen, wie die Out-of-Area Einsätze, Fragen der Identität oder feministische Ansätze prägten die post-2000 Forschungslandschaft zur NATO. Intensiv erforscht werden gegenwärtig auf Basis von kürzlich deklassifizierten Dokumenten auch bedeutende politische Entscheidungen der jüngeren Zeitgeschichte, um ein besseres Verständnis der historischen Ereignisse zu gewinnen.  

Gefangen in einem globalen Interregnum, in dem sich alte Gewissheiten plötzlich auflösen und neue Unsicherheiten den politischen Alltag bestimmen, besteht die Aufgabe der Friedensforschung heute in der Beantwortung folgender Fragen: Wie können Sicherheitsinstitutionen wie die NATO angesichts der wachsenden Herausforderungen mehr politischen Zusammenhalt fördern? Unter welchen Bedingungen ist globale Kooperation heute möglich? Wie kann man Konflikte nachhaltig lösen und mehr Frieden und Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger erreichen? Diese Fragestellungen werden die NATO-Forschungsagenda auch zukünftig prägen. Der NATO-Rückzug aus Afghanistan wird neue Untersuchungen zur nachhaltigen Konfliktlösung antreiben. Unzureichend erforscht bleibt weiterhin, welche Implikationen die Krise des Multilateralismus und die zunehmende Infragestellung bislang geteilter Normen und Werte, auch innerhalb des Verteidigungsbündnisses, haben wird.

Die Frage nach den Grundlagen für Krisenprävention und dauerhaften Frieden ist im Wandel der Zeit stets Teil des wissenschaftlichen Diskurses gewesen. In einer immer turbulenter werdenden Welt besteht der Beitrag von Friedensforschungsinstituten in der interdisziplinären Konturierung neuer Forschungsagenden sowie in der Entwicklung neuer epistemologischer Ansätze und Methoden zur Friedensförderung.

Autorin: Dr. Cornelia Baciu