In Zeiten von wachsendem Nationalismus rücken Deutschland und Frankreich enger zusammen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron haben heute in Aachen einen Vertrag unterzeichnet, der die Freundschaft der beiden Länder erneuern und unterstreichen soll. In 28 Artikeln legt der Vertrag fest, in welchen Bereichen Deutschland und Frankreich künftig verstärkt zusammenarbeiten wollen. EU-Experte Dr. Hans-Georg Ehrhart vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) hat Zweifel, ob der neue Freundschaftspakt die beiden Länder und Europa in die richtige Richtung treibt:
"56 Jahre nach der Unterzeichnung des Élyséevertrags haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emmanuel Macron am 22. Januar 2019 den „Vertrag über deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration“ oder Aachener Vertrag besiegelt. Weil man ihm eine ähnliche Bedeutung beimisst, wird er auch Élyséevertrag 2.0 genannt. Der Vertrag von 1963, auch gerne als Grundlage der europäischen Integration verklärt, gilt weiterhin. Er war damals zustande gekommen als Ersatzlösung gescheiterter Verhandlungen über eine Europäische Union der sechs Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG.
Er sah regelmäßige Zusammenkünfte auf den Gebieten der Außenpolitik, Verteidigung, Erziehung und in Jugendfragen vor. Die Regierungen sollten sich vor wichtigen außenpolitischen Entscheidungen konsultieren. In Verteidigungsfragen sollten sie sich auf dem Gebiet der Strategie und Taktik annähern, den Personalaustausch zwischen den Streitkräften verstärken und gemeinsame Rüstungsvorhaben durchführen. Der Elyséevertrag wurde 1988 geändert, indem man bilaterale Räte für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit, Finanzen und Wirtschaft sowie Kultur schuf. Er gilt als Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung, aber auch als Instrument europäischer Politik. Warum also ein zweiter Vertrag?
Der Aachener Vertrag soll die Beziehungen auf eine neue Ebene heben. Er ist mit 28 Artikeln viel länger. Diese befassen sich mit zahlreichen Projekten, die von einem Investitionsprogramm für die Grenzregionen über gemeinsame Investitionsfonds für Start-ups bis zu gemeinsamen Forschungsprogrammen reichen. Es geht aber auch um eine engere Verzahnung der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Der neue Vertrag ist inhaltlich viel weiter gefasst. Dementsprechend beschreibt ihn die Bundesregierung als Ergänzung und Vertiefung der Zusammenarbeit. Ziel ist die Stärkung der Fähigkeit Europas, gemeinsam und eigenständig zu handeln. Wenn die Stärkung der EU im Vordergrund steht, so stellt sich allerdings die Frage, warum im Vertrag die Unterstützung Frankreichs für einen ständigen deutschen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen festgeschrieben wird. Ist damit nicht das Ziel eines gemeinsamen europäischen Sitzes obsolet geworden?
Im Unterschied zum Élyséevertrag enthält der Aachener Vertrag eine Beistandsklausel für den Fall „eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete“, die ausdrücklich militärische Mittel einschließt. Offen lässt der Vertragstext in diesem Zusammenhang die Rolle französischer Nuklearwaffen. Nicht neu ist das Vorhaben, die militärischen Fähigkeitslücken zu schließen und dafür mehr zu investieren. Beide Länder haben ja bereits damit begonnen, die Militärausgaben zu erhöhen. Die Zusammenarbeit der Streitkräfte soll sowohl mit Blick auf eine gemeinsame Sicherheitskultur als auch gemeinsame Einsätze intensiviert werden. Paris darf also darauf hoffen, dass Berlin künftig der interventionsfreudigeren französischen Politik folgt. Gemeinsames Intervenieren setzt aber voraus, dass sich die sicherheitspolitischen Zielsetzungen und Strategien einander weiter annähern. Darauf wollen beide hinarbeiten.
Die Vertragspartner versprechen sich einmal mehr, dass ihre Verteidigungsindustrien aufs Engste zusammenarbeiten. Diesem Vorhaben stehen allerdings viele Widerstände entgegen, die vom Erhalt von Arbeitsplätzen über unterschiedliche Anforderungen an die Waffensysteme bis zu nationalen Sicherheitsvorbehalten reichen. Innovativ erscheint auch das Vorhaben, einen gemeinsamen Ansatz für den Rüstungsexport zu entwickeln. Die Frage ist allerdings, was das konkret heißt angesichts der Tatsache, dass beide bereits zu den größten Exporteuren von Großwaffensystemen nach den USA und Russland gehören. Damit all diese Vorhaben nicht bloß auf dem Papier stehen bleiben, ist die Aufwertung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats vorgesehen. Er soll künftig auf höchster Ebene als politisches Steuerungsorgan dafür sorgen, dass sie verwirklicht werden.
Der Aachener Vertrag ist mehr als ein bloßes Symbol der deutsch-französischen Freundschaft. Diente der Élyséevertrag der Aussöhnung zwischen zwei Völkern, die innerhalb von 75 Jahren drei Mal Krieg gegeneinander geführt hatten, so kann man den neuen Vertrag als Signal des Aufbruchs deuten. Fragt sich nur, Aufbruch in welche Richtung? Führt er zu mehr Interventionismus in Afrika, im Nahen Osten oder gar weltweit? Schließlich hat Frankreich als ständiges Mitglied der Vereinten Nationen einen anderen Status als Deutschland. Es leitet daraus weltpolitische Verantwortung ab. Dieses Selbstbild als globaler Akteur basiert auch darauf, dass es über Territorien auf der ganzen Welt verfügt. Deutschlands strategischer Schwerpunkt liegt aber in Osteuropa. Gleichwohl bestreitet es in Mali seinen gefährlichsten Militäreinsatz. Es dürfte wohl nicht der letzte in Afrika sein.
Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Frankreich über eine Konzeption nationaler strategischer Autonomie verfügt. Es will seine Fähigkeit behalten, alleine zu handeln. Deutschland hat diesen Anspruch nicht. Es setzt auf multilaterale Organisationen. Jeder militärische Einsatz der Bundeswehr bedarf der vorherigen Zustimmung des Bundestages. Hier besteht die Gefahr, dass konservative Abgeordnete ihren Versuch wiederholen, diesen Parlamentsvorbehalt aufzuweichen. Ein dritter Unterschied liegt darin, dass Frankreich Nuklearmacht ist. Atomwaffen sind für Paris der Garant nationaler Sicherheit und Unabhängigkeit. Deutschland hat auf die Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen verzichtet. Das ist gut so und sollte so bleiben.
Der Aachener Vertrag wirft also einige Fragen auf. Paris will traditionell ein „europäisches Europa“. Berlin sieht das mittlerweile angesichts der Erfahrungen mit Brexit, Trump und Putin ähnlich. Beide wollen mit dem bilateralen Vertrag ein Zeichen setzen für mehr Europa. Die entscheidende Frage ist aber: Soll diese sicherheitspolitisch autonomere EU als Großmacht im klassischen Sinne handeln oder als Friedensmacht, die auf friedlichen Wandel und auf die Stärke des Rechts setzt?"
Hans-Georg Ehrhart, Senior Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.