Die Rüstungsindustrie ist kein Wachstumsmotor für Europa

Am 14. Dezember, wenige Tage nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union, warteten Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident van Rompuy mit erstaunlichen Aussagen auf. Van Rompuy kündigte an, dass der Rat der EU „sich eine stärkere Rüstungsindustrie“ wünsche, „die zu mehr Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sowie zu mehr Wachstum und Beschäftigung in der Union beitragen wird“. Barroso ergänzte: „Neben politischen und anderen Aspekten ist der Verteidigungssektor auch äußerst wichtig im Hinblick auf Exporte und Spitzentechnologie und schafft Wachstum und hochqualifizierte Arbeitsplätze.“

Diese Äußerungen haben nur beschränkten Realitätsgehalt. Zutreffend ist: Rüstung schafft Arbeitsplätze, Rüstungsindustrie ist überwiegend Spitzentechnologie. Aber: Innovation und Jobs werden mit viel Geld erkauft. Rüstungsgüter werden in erster Linie für militärische Zwecke entwickelt. Zivile Anwendungen sind Nebenprodukte. Wenn durch staatliches Geld – und Rüstungsforschung wird fast ausschließlich staatlich finanziert – zivile High-Tech geschaffen werden soll, dann ist Investition

in zivile Spitzentechnologie der beste Weg. Der Umweg über Rüstungstechnologie ist genau dieses: ein Umweg. Nur ein Teil des investierten Geldes führt zu zivil nutzbaren Erkenntnissen.

Trotz dieser simplen Logik, die empirisch vielfach belegt ist, hält sich zäh die Ansicht, dass Rüstungsforschung auf wundersame Weise mehr an neuen technologischen Erkenntnissen erzeugt als zivile Forschung. Ursache ist wohl, dass viele Technologien, von der Mikrowelle bis zum Container, aus dem militärischen Bereich kommen. Allerdings stammen die meisten „spin-offs“, die in der Diskussion immer wieder genannt werden, aus Kriegszeiten, als es kaum zivile Forschung gab (in den beiden genannten Fällen aus dem 2. Weltkrieg).

Heute ist militärische Forschung nur noch in wenigen Staaten eine beachtliche Größe. Dazu zählen an erster Stelle die USA und Großbritannien. Beide Staaten fallen jedoch in den meisten High-Tech-Industrien gegenüber Staaten mit vorwiegend ziviler Forschung, wie etwa Deutschland und Japan, seit Jahrzehnten zurück. Anlass der Äußerungen von Rats- und Kommissionspräsident war denn auch nicht die Sorge um Europas zivile High-Tech-Industrie, sondern um die Stellung der europäischen Rüstungsindustrie im weltweiten Wettbewerb. Der Europäische Rat beschloss auf seiner Dezembersitzung, deren Ergebnisse van Rampuy und Barroso am 14. Dezember bekannt gaben, im Herbst 2013 über konkrete Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie zu verhandeln. Die Kommission kündigte an, bereits im Frühjahr 2013 ein entsprechendes Papier vorlegen zu wollen. Grundlage der hektischen Aktivitäten ist ein im Sommer 2012 von der Kommission vorgelegter Bericht. Dieser kommt zu dem Schluss, dass die europäische Rüstungsindustrie vor schwierigen Zeiten steht.

Nicht nur die Mitgliedstaaten der EU kürzen ihre Beschaffungshaushalte. Auch der US-amerikanische Rüstungsetat, bei Weitem der größte in der Welt, wird kleiner. Die US-amerikanische Rüstungsindustrie sucht sich neue Märkte und drängt, wie in ähnlichen Phasen der Vergangenheit, etwa nach dem Ende des Vietnam-Krieges in den 1970er oder dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren, in den Export nach Europa und in Drittstaaten.

EU-Rat und -Kommission wollen die europäische Rüstungsindustrie durch drei Maßnahmenbündel stärken: verstärkte Kooperation der Mitgliedstaaten bei der Rüstungsbeschaffung, Umschichtung der Haushalte zugunsten militärischer Forschung und Entwicklung und mehr Rüstungsexporte. Während mehr Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sinnvoll, aber nur schwer durchsetzbar ist, ist eine Stärkung der militärischen Forschung und Entwicklung problematisch. Denn davon könnte zwar die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie profitieren; für den Rest der Industrie wäre es jedoch eindeutig von Nachteil, wenn Geld statt in zivile in militärische Projekte fließen würde.

Der Versuch die Rüstungsexporte aus Europa auszuweiten, schließlich ist ein politischer Irrweg. Die noch bestehenden Schranken beim Rüstungsexport – hoch sind sie in Ländern wie Frankreich oder Spanien ohnehin nicht – müssten weiter gesenkt werden. Der Friedensnobelpreisträger Europäische Union müsste an noch mehr Staaten mit schlechter Menschenrechtsbilanz und in Kriegsgebiete liefern.

Die sich abzeichnende Krise der europäischen Rüstungsindustrie sollte für eine strategische Konsolidierung genutzt werden. Statt zu versuchen, durch noch mehr staatliche Alimentation und Öffnung problematischer Märkte eine überdimensionierte Rüstungsindustrie zu erhalten, sollten Kommission und Rat die Mitgliedstaaten bei einem Prozess des „right-sizing“ unterstützen. Die Rüstungsindustrie sollte auf ein mit dem Bedarf der Streitkräfte in Europa kompatibles Maß schrumpfen. Das könnte durch die Stärkung des innereuropäischen Wettbewerbs und gemeinsame Beschaffungsvorhaben von Mitgliedstaaten erreicht werden, sodass die effizientesten Industrien und Firmen überleben und nicht diejenigen, die die höchsten nationalstaatlichen Subventionen erhalten. Betrieben, die aus dem Rüstungsgeschäft aussteigen, sollten, wie in den 1990er Jahren, Hilfen für das Fußfassen in zivilen Märkten angeboten werden.

Leider lassen die Äußerungen der Präsidenten von Rat und Kommission befürchten, dass die EU sich in eine andere Richtung bewegt. Sie zeigen den Erfolg des Lobbyismus der europäischen Rüstungsindustrie: Ihr kann so zwar geholfen werden, aber die zivile High-Tech-Industrie und das Wachstum in der EU würden dadurch Schaden nehmen.

Will man mehr hochqualifizierte Arbeitsplätze in der Spitzentechnologie, muss in zivile Technologie investiert werden.

Kontakt:

Michael Brzoska