Die Zukunft der europäischen Sicherheit liegt in einem gestärkten Multilateralismus in einer multipolaren Welt. Beide Strukturmuster stehen in einem Spannungsverhältnis, schließen einander aber nicht aus. Multilateralismus baut auf die Interdependenz der Staaten- und Gesellschaftswelt, Kooperation als vorherrschendem Handlungsimperativ, einem gewissen Maß an Institutionalisierung und auf gemeinsame Regeln und Normen. Das Gegenmodel ist die Unipolarität. Multipolarität geht vom Vorhandensein mehrerer Machtzentren aus, die sich auf eine eigene Zivilisation, auf eigene Einflusssphären und ein eigenes politisches System gründen, und deren Antriebskräfte die angenommene Anarchie des internationalen Systems, das Denken in Kategorien des Nullsummenspiels und des stetigen Ringens um Macht und Einfluss sind. Die folgenden Überlegungen zur Zukunft der europäischen Sicherheit basieren auf drei Annahmen. Erstens, die gegenwärtig in Europa zu beobachtenden Renationalisierungstendenzen können zugunsten von mehr Kooperation und Integration wieder gestoppt und umgekehrt werden. Zweitens, die Entfremdung zwischen der EU und den USA nimmt vor dem Hintergrund des Wandels von einer benevolenten zu einer tributären US-Hegemonie zu. Drittens, der Ukrainekrieg endet in einem Patt, das die russische Aggression de facto belohnt, aber die Existenz einer unabhängigen Ukraine, die über circa 80 Prozent ihres Staatsgebiets verfügt, ermöglicht. Vor diesem Hintergrund ist die Stärkung des europäischen Multilateralismus im Sinne einer zunehmenden Sicherheitszusammenarbeit Voraussetzung für eine größere europäische Souveränität.
Hans-Georg Ehrhart, Europäische Sicherheit nach dem Ukrainekrieg: Zwischen Multipolarität und Multilateralismus? In: Wissenschaft und Frieden, Heft 2/2025, S. 16-18.