Vor zehn Jahren begann ein großer Irrtum. Die internationale Gemeinschaft folgte den USA in einen Krieg, der im Laufe der Zeit sein Gesicht ebenso änderte wie Afghanistan selbst. Deutschland nahm mit noblen Absichten daran teil und verweigerte sich lange Zeit der Realität kriegerischer Dynamik, die schließlich auch den eigenen Verantwortungsbereich im Norden des Landes erfasste. Lautete zuvor die Frage „Krieg oder Stabilisierung?“, so heißt sie heute „Aufstandsbekämpfung“ oder „Antiterrorkampf“.
Es geht also nur noch um die Art der kriegerischen Auseinandersetzung. 2014 steht als Datum fest, an dem die „Verantwortung für die Sicherheit“ an Afghanistan übergeben wird. Die USA ziehen bereits erste Truppen ab. Der deutsche Verteidigungsminister sorgt sich um einen zu schnellen und unkoordinierten Abzug – wer will schon der letzte sein, der das Licht ausknippst? –, während die offizielle Propaganda der USA und ihrer Partner die Intervention bereits als Erfolg präsentiert.
Dieser „Erfolg“ ist jedoch mehr als zweifelhaft. Nach erfolgreicher Vertreibung der Taliban wurde das Fenster der Möglichkeit, dem Land auf die Beine zu helfen, vertan. Die Aufständischen reorganisierten sich und machen seitdem der Regierung Karsai und seinen internationalen Unterstützern das Leben schwer.
Die vielen taktischen Erfolge der internationalen Koalition konnten letztlich nicht zu einem strategischen Sieg umgemünzt werden. Die Lage im Lande ist zwar etwas besser als 2001 aber insgesamt schlecht. Analysiert man die vier wichtigsten Beurteilungskriterien der USA für die Erfolgsmessung in Afghanistan, dann wird deutlich, dass es nicht gut um das Land bestellt ist.
- Governance: hohe Regierungskorruption; ein Präsident mit schwacher Legitimation; partielle Fortschritte in den Bereichen Schulbildung Wirtschaftswachstum und medizinische Versorgung; Analphabetenrate: 78 Prozent, Armutsanteil 62 Prozent, Kindersterblichkeit 16 Prozent, Zugang zu Elektrizität 15 Prozent (Stadt), 6 Prozent (Land), Zugang zu Trinkwasser 23 Prozent. Ergo: Im Human Development Index ist das Land über die Jahre auf den vorletzten Platz zurückgefallen, in 2010 allerdings von Rang 172 auf 158 gestiegen. Im Freedom of Press Index ist es auf Rang 162 abgerutscht, auf dem Korruptionsindex auf Rang 179. Afghanistan ist immer noch der weltweit größte Opiumproduzent.
- Afghanische Sicherheitskräfte: Hier liegt die internationale Gemeinschaft nominell im Soll und wird wohl das Ziel von 300.000 Polizisten und Soldaten 2011 erreichen. Ob noch weitere 100.000 bis 2013 hinzukommen ist fraglich. Probleme gibt es mit der Qualität, der politischen Kontrolle, der militärischen Führung, der nachhaltigen Ausbildung und mittel- bis langfristig mit der Finanzierung. Die heutigen Kosten von 11,5 Mrd. Dollar werden bis 2013 auf 13 Mrd. ansteigen. Das ist mehr als das afghanische Jahresbudget, das wiederum zu 77 Prozent von der internationalen Gemeinschaft finanziert wird.
- Externe Unterstützung der Aufständischen: Die Insurgenten erhalten nach wie vor finanzielle, logistische und politische Unterstützung. Es ist zweifelhaft, ob diese Unterstützung angesichts der vielen Nachbarn und der besonderen Interessen Pakistans dauerhaft unterbunden werden kann.
- Nutzung eines Sanktuariums: Die Paschtunen leben beiderseits der afghanisch (12 Mio.) -pakistanischen (25 Mio.) Grenze. Diese von der vertriebenen Kolonialmacht gezogene Grenze hatte für die Stämme nie eine trennende Bedeutung. Weder der politische Druck auf Islamabad noch der militärische Druck auf die Aufständischen durch Drohnenangriffe haben das strategische Kalkül Pakistans geändert, über die Paschtunen immer maßgeblichen Einfluss auf Afghanistan zu haben.
Der Preis für diese miserable Bilanz ist hoch. Die Zahl der Gefallenen Soldatinnen und Soldaten der Koalition geht auf die 3000 zu, darunter über 50 Deutsche. Insgesamt soll es bislang 20.000 Tote und 50.000 schwer Verwundete gegeben haben. Die terroristische Bedrohung ist durch diesen Krieg nicht ausgeschaltet worden. Deren Zentrum lag und liegt immer noch in Pakistan. Die Freiheitsrechte in Deutschland und in anderen westlichen Ländern sind eingeschränkt worden. Die Erfahrung lehrt, dass sie einkassiert bleiben.Wie aber weiter mit Afghanistan?
Erstens sollte die Bundesregierung eine militärische Disengagementstrategie entwickeln, die den Abzug aller Kampfkräfte bis 2014 beinhaltet. Zweitens sollte die Bundesrepublik weiter entwicklungspolitisch im Lande engagiert bleiben. Drittens sollte sie jene politischen und gesellschaftlichen Kräfte vor Ort fördern, die eine relative Stabilisierung des Landes unterstützen.
Die Auseinandersetzung mit Aufständen mag zwar ein Konfliktszenario sein, das im 21. Jahrhundert wieder an Bedeutung gewinnt. Die Antwort sollte aber nicht so ausfallen wie in Afghanistan. Gefragt sind vielmehr Gründlichkeit in der Lageanalyse, Bescheidenheit in der Zielsetzung und Zurückhaltung mit militärischer Intervention.
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