Die Lage der Ukraine ist gefährlich. Seit Russlands kalter Annexion der Krim herrscht ein Krieg der Worte, einzelne Gewaltakte in der Ostukraine und der russische Aufmarsch an der Grenze lassen Befürchtungen aufkommen, die Lage könnte zu einem heißem Gewaltkonflikt eskalieren. Die Genfer Erklärung Russlands, der USA, der Ukraine und der EU hat zwar eine Atempause verschafft. Die Spannungen halten aber an, denn die Grundfragen sind nicht gelöst: die Zukunft der gesamtstaatlichen Existenz der Ukraine und der europäischen Friedensordnung. Wird der Konflikt eskalieren? Wie passt Steven Pinkers These dazu, langfristig befinde sich der Krieg als Institution des zwischenmenschlichen Verkehrs im Niedergang? Ursächlich dafür ist vor allem die menschliche Natur, wie er in dem Aufsatz „The Decline of War and Conceptions of Human Nature“ schreibt.1
Die „besseren Engel“ in uns haben demnach in einem langen historischen Lernprozess letztlich die „inneren Dämonen“ verdrängt. Der historische Trend führte uns von der brutalen Sammler- und Jägerexistenz über eine abnehmende Mordrate im Mittelalter bis zur Entwicklung von Normen und Organisationen, die bestimmte bis dato gesellschaftlich akzeptierte Gewaltformen einhegten. Der Trend setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort und führte zum Ende von Kriegen zwischen Großmächten und zur Abnahme aller Formen des organisierten Konflikts bis zu einer tendenziellen Abneigung gegen jede Form auch geringerer Aggression. Als bekennender Anhänger von Thomas Hobbes setzt Pinker darauf, dass letztlich die Vernunft siegt und der Naturzustand überwunden bleibt. Trifft das auch auf Putins Russland zu?
Unser neurobiologisches System umfasst Pinker zufolge mindestens vier Antriebskräfte („Dämonen“), die für menschliche Gewalt verantwortlich sind: 1. Ausbeutung: Gewalt kann dann als Mittel zum Zweck eingesetzt werden, wenn dadurch etwas erreicht wird, was man will. Putin hat in der Krimkrise Druck ausgeübt und indirekte Gewalt angewendet. Wie sich die Lage in der Ostukraine entwickelt, bleibt abzuwarten. 2. Dominanz: Man will in der Hackordnung bis zum Alphatier aufsteigen. Putin will die Rolle Russlands als Großmacht wiederherstellen und denkt in Kategorien von Einflusszonen. 3. Rache: Das Motiv für Rache ist die Überzeugung, dass einem großes Unrecht geschehen ist. Da der Westen mehrfach erklärte russische Interessen nicht beachtet hat, wie z.B. im Kosovo und in Libyen, glaubt Putin nun das Recht zu haben, seinerseits ebenfalls nur die eigenen Interessen berücksichtigen zu müssen und Gewalt nach Gutdünken einsetzen zu können. 4. Ideologie: Wenn eine Ideologie eine bessere Zukunft verspricht, darf zu ihrer Durchsetzung auch Gewalt angewendet werden. Frei nach der Devise: Der Zweck heiligt die Mittel. Putin glaubt an die Kraft des russischen Nationalismus und verspricht, die Rechte der ethnischen Russen außerhalb Russlands zu schützen, zur Not auch mit Gewalt.
Nach Pinker gibt es aber auch vier Antriebskräfte („die besseren Engel“) in unserem neurobiologischen System, die den gewaltfördernden Motiven Einhalt gebieten können. 1. Selbstkontrolle: Unser Gehirn kann die langfristigen Folgen unseres Handelns antizipieren und gewaltfördernde Antriebe entsprechend blockieren. Demnach kann Putin die Kosten seines Handelns erkennen und richtig berechnen. 2. Empathie: Einfühlungsvermögen kann Gewalt verhindern. Putin weiß wie man sicht fühlt, wenn einem subjektiv Unrecht widerfahren ist. Also kann er die westliche Haltung zumindest nachempfinden. 3. Moral: Der Sinn für Maßstäbe der Fairness und für die Geltung grundlegender Normen kann Gewalt verhindern. Aber auch das Gegenteil ist möglich, nämlich wenn sie als vorsätzlich verletzt angesehen werden. Dieser Interpretation dürfte Putin zuneigen. 4. Vernunft: Diese kognitive Fähigkeit erlaubt eine möglichst objektive Lageanalyse. Demnach muss Putin den Konflikt nicht eskalieren.
Ob Gewalt angewendet wird oder nicht, hängt nach dieser Theorie vom Zusammenspiel der gewaltfördernden und -hemmenden Fähigkeiten ab. Diese sind nicht statisch. Sie werden beeinflusst von Umweltbedingungen, kognitiven und emotionalen Zuständen. Sie sind sogar im Laufe der Zeit so veränderbar, dass die positiven die negativen Eigenschaften überwiegen können. Trifft das auch auf Putins Russland zu?
Eine wesentliche Rolle für die Gewalteindämmung spielen nach Pinker unsere kognitiven Fähigkeiten bzw. unsere Vernunft. Sie hat in der Vergangenheit Bedingungen hervorgebracht, die insgesamt gewalteinschränkend wirken. An erster Stelle sind hier der Staat und sein Gewaltmonopol zu nennen. Der Staat wird eingehegt durch das Völkerrecht und die Präsenz anderer Staaten sowie durch die demokratische Kontrolle der Regierung. Letztere ist in Russland nur noch eingeschränkt gegeben; die ersten beiden wirken jedenfalls bislang immerhin, wenn auch nur mäßig. Aufgrund der wirtschaftlichen Vernetzung ist es eigentlich lohnender, Handel zu treiben bzw. über erwünschte Dinge zu verhandeln als Gewalt anzuwenden. Gleichwohl scheint der kurzfristige Vorteil des Gebietszuwachses durch die Annexion der Krim die möglichen langfristigen ökonomischen Kosten – etwa durch die Reaktion der Märkte oder die Umorientierung der europäischen Energieversorgung – zu überwiegen. Die Norm und der Nutzen gewaltfreier Kooperation kann große Prägekraft haben, auch für Putin. Die Frage ist, ob er sich eine Ausnahme von der Regel erlaubt, so wie der Westen das seiner Ansicht nach auch schon praktiziert hat. Internationale Organisationen oder Regime spielen eine wichtige Rolle bei der Konfliktregelung. Im Ukrainekonflikt sind vor allem die OSZE und die UNO gefragt, auf jeden Fall solche Formate, wo Russland und die Ukraine gleichberechtigt mit am Tisch sitzen. Sie könnten zur Eindämmung des Konflikts beitragen. Des Weiteren verweist Pinker auf die positive Wirkung einer maßvollen Reaktion auf eine Aggression. Die bisherige westliche Antwort war durchaus maßvoll. Sie lässt Putin (wie auch dem Westen selbst) noch die Chance eines gesichtswahrenden Kompromisses. Als letzten Punkt führt Pinker die Wirkkraft positiver „Gegenideologien“ an, wie Menschenrechte und die Ablehnung von Krieg. Ob sie sich gegen nationalistische und revanchistische Tendenzen in Russland und in der Ukraine durchsetzen, bleibt abzuwarten. Ein Problem könnte darin bestehen, diese nicht ausreichend beachteten oder gar herbeigerufenen Geister wieder in die Schranken zu weisen.
Die hier mit Blick auf Putins Russland verwendeten Kategorien von Steven Pinker ergeben keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Putin auf dem „Kriegspfad“ ist. Das wird erst die nähere Zukunft zeigen. Die Übertragung von Pinkers Thesen macht aber deutlich, dass und wie ein Gewaltkonflikt verhindert werden kann. Einer der wichtigsten Mechanismen zur Gewalteinhegung ist die unbegrenzte Fähigkeit des Menschen Ideen zu entwickeln, um ein Problem zu lösen. Laut Pinker sind Institutionen eine dieser Ideen, die die Wahrscheinlichkeit eines Krieges verringern – im konkreten Fall könnte das die bereits in der Ukraine aktive OSZE sein und/oder eine noch zu schaffende Kontaktgruppe, bestehend aus den fünf Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats plus Deutschland, Polen und der Ukraine (P5+3). Wichtig ist, dass und wie kommuniziert wird. Unilateraler Pazifismus ist ebenso konfliktfördernd wie überzogenes Säbelrasseln. Die Kunst liegt darin, Putin die langfristigen Konsequenzen seines aggressiven Fehlverhaltens glaubhaft zu verdeutlichen und gleichzeitig mit ihm einen Weg aus der Krise zu finden, bevor sich die Konfliktdynamik verselbstständigt und außer Kontrolle gerät.
1 Steven Pinker, The Decline of War and Conceptions of Human Nature, in: International Studies Review (2013) 15, S. 400.
Kontakt: Hans-Georg Ehrhart