Kein „Weiter so“ bei der deutschen Rüstungspolitik

In Deutschland wird (einmal wieder) über die Zukunft der Rüstungsindustrie diskutiert. Mit ca. 90.000 Beschäftigten, d.h. weniger als zwei Prozent aller Industriebeschäftigten, ist sie keine besonders große Branche. Aber im Gegensatz zum Rest der Industrie hat sie de facto eine weitgehende Bestandsgarantie.

 

Deutsche Beschaffungsbehörden bevorzugen die deutsche Rüstungsindustrie, soweit dies möglich ist. Da deutsche Firmen in vielen Bereichen, etwa dem Luftfahrzeugbau oder der Elektronik, nicht auf dem höchsten technischen Stand sind, kommt es oft zu Koproduktionen mit ausländischen Partnern, wobei die Arbeitsanteile deutscher Firmen in der Regel dem deutschen Anteil an den Kosten des Projekts entsprechen. Die besondere Behandlung deutscher Rüstungsfirmen erstreckt sich auch auf die Rüstungsexportpolitik. Zwar sollen nach den Politischen Richtlinien zum Rüstungsexport aus dem Jahr 2000 nicht etwa wirtschaftliche, sondern sicherheitspolitische Argumente für Entscheidungen ausschlaggebend sein, aber häufig waren doch ökonomische Gründe maßgebend. Ein Indikator für die Bedeutung wirtschaftlicher Fragen ist, dass Rüstungsexportgenehmigungen vom Wirtschaftsministerium erteilt werden.

 

In der aktuellen Diskussion werden beide Stützen der Sonderstellung der Rüstungsindustrie – nationale Beschaffung und Rüstungsexporte – infrage gestellt.

 

Das Volumen der Genehmigungen, das Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Mitte Oktober bekannt gegeben hat, ist deutlich gesunken. Zwar liegt das vor allem an gesunkenen Exporten in verbündete Staaten, aber insbesondere im Bereich von Kleinwaffen und gepanzerten Fahrzeugen sind auch darüber hinaus Rückgänge zu verzeichnen. Insbesondere für die Hersteller von Heeresrüstung könnten die Zeiten deshalb schwieriger werden.

 

Aber potenziell größere Auswirkungen könnte die Diskussion um Veränderungen bei den Beschaffungen von Rüstungswaren haben. Der Anfang Oktober vorgelegte Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG legt eine Reihe von Problemen in der Beschaffungsbürokratie offen, signalisiert aber auch, dass das Grundproblem an anderer Stelle liegt. Immer wieder gelingt es den Rüstungsfirmen, Beschaffungsbehörden dazu zu bewegen, Verträge zu akzeptieren, die zwar für die Firmen, nicht jedoch für die Behörden von finanziellem Vorteil sind.

 

Es ist keine neue Erkenntnis, dass politische Protektion asymmetrische Beziehungen zwischen den Anbietern von Rüstungsgütern und Beschaffungsbürokratien fördert. Wenn Rüstungsproduzenten eine Art von Bestandsschutz genießen, und dies ist in Deutschland in vielen Bereichen der Fall, können sie aus einer Machtposition verhandeln.

 

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen scheint die Aufmerksamkeit, die sie mit dem KPMG-Bericht hervorgerufen hat, dazu nutzen zu wollen, diese Machtposition zu brechen oder zumindest zu schwächen. Ein weiteres Signal ist der im Verteidigungsministerium entstandene „Diskussionsbeitrag“ zu den Kernkompetenzen der deutschen Rüstungsindustrie. In diesem Papier werden nur sehr kleine Bereiche der deutschen Rüstungsindustrie – Verschlüsselungs- und Aufklärungstechnik sowie Schutzausrüstung – für unverzichtbar erklärt. 

 

Wirtschaftminister Gabriel und andere führende Sozialdemokraten widersprachen umgehend und verwiesen auf die Arbeitsplätze etwa bei den U-Boot-Herstellern. Ministerin von der Leyen konterte mit der Bemerkung, dass es nicht die Aufgabe der Bundeswehr sei, die deutsche Rüstungsindustrie zu erhalten, sondern dass dies in vielen Bereichen nur mit mehr Export gehe.

 

Das Thema Zukunft der deutschen Rüstungsindustrie droht zu einem Zankapfel zwischen den Koalitionsparteien zu werden. Dabei machen die momentanen Probleme einmal mehr das grundlegende Dilemma einer Industrie deutlich, die zu klein ist, um alles liefern zu können, was die Bundeswehr gerne beschaffen möchte, und zu groß, um nur die Bundeswehr zu beliefern. Das Beschaffungswesen könnte effizienter sein, wenn die Privilegierung deutscher Firmen fiele. Das aber würde zu einem massiven Rückgang der Beschäftigung und einer deutlichen Verkleinerung der Rüstungsindustrie führen, wenn nicht parallel dazu der Export erheblich ausgeweitet würde. Letzteres aber ist angesichts der finanziellen Situation in vielen Staaten nur realistisch, wenn deutschen Firmen der Export in wachsende Rüstungsmärkte erlaubt wird – z.B. in den Nahen Osten oder nach Russland und China.

 

Eine immer wieder angepriesene Lösung oder zumindest Verminderung des Dilemmas ist die Europäisierung der Rüstungsmärkte. Die potenziellen Vorteile sind offensichtlich: Mehr Anbieter würden die Marktmacht einzelner Hersteller reduzieren, längere Produktionsserien die Kosten senken. Zwar könnten auch auf europäischer Ebene Monopole entstehen und große Hersteller verstärkt auf weltweite Märkte drängen. Aber dem ließe sich auf größerer wirtschaftlicher Skala leichter begegnen.

 

Das Hauptproblem einer Europäisierung der Rüstungsmärkte ist es, vom jetzigen Zustand geschützter nationaler Rüstungsindustrien zu einer Umstellung auf wettbewerbsoffene Beschaffung in Europa zu kommen. Wenn nur ein Staat voran geht, verlieren dessen Rüstungsfirmen nationale Aufträge, ohne die Chance, dies durch Aufträge aus anderen europäischen Staaten kompensieren zu können. Diese Erfahrung machte die britische Thatcher-Regierung, als sie in den 1980er Jahren ihren Rüstungsmarkt öffnete. Auch ein gemeinsames Vorgehen aller EU-Mitgliedstaaten hätte Gewinner und Verlierer unter den Rüstungsherstellern – ein Ergebnis, das die großen Mitgliedstaaten bisher nicht akzeptieren wollten.

 

Ministerin von der Leyen und Minister Gabriel blockieren sich gegenseitig, wenn sie ihre jeweiligen Ziele – effizientere Beschaffung, weniger Rüstungsexport – in Konkurrenz zu­einander verfolgen und gleichzeitig keine drastische Verkleinerung der deutschen Rüstungsindustrie zu akzeptieren bereit sind. Nur ein gemeinsames Vorgehen kann helfen, die drei Ziele unter einen Hut zu bringen – der am ehesten ein europäischer sein könnte. Der gangbarste Weg dafür wäre eine Initiative für eine parallele europäische Öffnung der Rüstungsmärkte bei gleichzeitiger Durchsetzung einer restriktiven europäischen Rüstungsexportpolitik.

 

Kontakt: Michael Brzoska