S+F 3/2019 - Europäische Friedensordnung neu gedacht

Dr. Patricia Schneider

"Europa befindet sich an einem Scheideweg“: Diese in Sonntagsreden oft bemühte Formel rückt heute mit großer Wucht ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Viele beunruhigende Trends haben insbesondere in Westeuropa zu Ernüchterung und Ratlosigkeit geführt. Die Vision der Friedensgemeinschaft vom Atlantik bis zum Ural scheint dahin. Sind die Lehren aus den Jahren des Kalten Krieges vergessen? Erinnert sich niemand mehr an die verhängnisvollen Dynamiken des Sicherheitsdilemmas im Ost-West-Konflikt, die durch zügelloses Wettrüsten erzeugt worden waren? Die Rahmenbedingungen sind komplexer geworden, die durch Globalisierung und Strukturwandel zu lösenden Herausforderungen schwieriger zu meistern. Trotz der geänderten Rahmenbedingungen hat die Neue Ostpolitik der 1960er Jahre etwas mit der Gegenwart gemeinsam:, auch diesmal sind kühne Ideen gefragt und der unbedingte Wille, den Frieden zu erhalten.  Hier knüpft der Themenschwerpunkt des aktuellen S+F-Heftes an, das diesmal von Hans-Joachim Giessmann, herausgegeben wird.

Andreas Schädel wirft einen kritischen Blick auf die Triebkräfte nationalistischer Politik in Europa und beschreibt diese als Produkt der Unfähigkeit zur Entwicklung gemeinschaftlicher Perspektiven. Insofern könne Kritik an der erkennbaren Renationalisierung allein keine Abhilfe schaffen. Erforderlich sei vielmehr ein überzeugender Gegenentwurf, den der Autor im Konzept einer „integrativen Identität“ sieht, welche auf liberalen, inklusiven und kooperativen Prinzipien beruht.
Hans-Georg Ehrhart untersucht das Spannungsfeld Europas zwischen einer Militärmacht auf der einen und einer Zivilmacht auf der anderen Seite. Er geht der Frage nach, ob und wie Europa unter den veränderten Bedingungen die Entschlossenheit aufbringen kann, eine Friedensmacht mit globaler Verantwortung zu werden. In Ermangelung anderer Alternativen sieht der Autor insbesondere die Europäische Union in der Pflicht, diesen Weg weiter zu verfolgen.
Hans Stark sieht in dem kritischen Zustand des „deutsch-französischen Tandems“ einen Ausdruck der aktuellen Poly-Krise der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstandenen Weltordnung. Er ermahnt insbesondere die deutsche Politik, die Chancen zur Gestaltung der europäischen Politik durch ein starkes „deutsch-französisches Tandem“ nicht zu verpassen.
Mathias Dembinski und Vera Rogova schlagen einen Bogen zur Neuen Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs. Sie befürchten, dass, falls die Bundesrepublik Deutschland sich auf eine Rolle der Vermittlerin zwischen widerstreitenden Interessen in Europa beschränkt, für mutige ostpolitische Initiativen kaum Raum entstehen würde. Sie erinnern an das Diktum Egon Bahrs, wonach die Veränderung des Status Quo die Anerkennung entstandener Realitäten voraussetzt.
Martin Wählisch wirft einen Blick über die Grenzen Europas hinaus nach Südosten. Er erinnert an die europäischen Vorleistungen zur Entwicklung multilateraler Sicherheitsdialoge und –kooperation und verweist auf die, bis zum Rückzug der USA, gelungene Kooperation der sogenannten „E3“ (Frankreich, Großbritannien und Deutschland) bei der Aushandlung des Atomabkommens mit dem Iran. Seine Analyse ist auf die Chancen multilateraler Sicherheitskooperation am Golf gerichtet.
Im Essay des Herausgebers Hans-Joachim Giessmann geht es schließlich um die erweiterte Dimension friedenspolitischer Verantwortung. Europa sei heute mehr als ein Zusammenschluss von Staaten, es sei vor allem eine Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger und  ihrer Gesellschaften. Erwiesen sich die politischen Eliten in diesen Gesellschaften als unfähig, eine wirksame Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwickeln, liegt es an der Zivilgesellschaft, dies zu fordern und selbst einen Beitrag hierzu zu leisten.
Außerhalb des Themenschwerpunkts befasst sich Richard Vogt mit den ökologischen, ökonomischen und geopolitischen Herausforderungen für die pazifischen Inseln.
Patricia Schneider, Fangu Sun und Steve Wood analysieren die regionale und globale Weltordnung aus europäischer, australischer und chinesischer Perspektive.

Kontakt: Patricia Schneider, schneider@ifsh.de.
Weitere Informationen finden Sie hier:: https://www.sicherheit-und-frieden.nomos.de/