Turbulente Zeiten als Impuls für die Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung

Prof. Dr. Ursula Schröder, Dr. Holger Niemann

Im November 2020 gerät in Berlin eine Demonstration gegen die Corona-Auflagen der Bundesregierung außer Kontrolle. Rechtsextreme Gruppen nutzen die aufgeheizte Stimmung für ihre Propaganda. (c) AFP

Das 50-jährige Jubiläum des IFSH ist mehr als nur ein Institutsgeburtstag. Es steht auch für die wechselhafte Entwicklungsgeschichte der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, die durch die weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Transformationen der vergangenen Jahrzehnte geprägt wurde. Die Etablierung der Friedens- und Konfliktforschung folgte einer Überzeugung der späten 1960er und 1970er Jahre, den Sozialwissenschaften eine größere gesellschaftliche und politische Rolle zuzuschreiben. Es ist daher kein Zufall, dass wichtige Institutionen des Felds in diesen Jahren gegründet wurden. Dazu gehören mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (1970) und der Berghof Stiftung für Konfliktforschung (1971) zwei Institute, mit denen das IFSH bis heute eng zusammenarbeitet. Daneben haben zuletzt vor allem die politischen Umbrüche der 1990er Jahre neue institutionelle Entwicklungsimpulse gegeben. Dies spiegelt sich beispielsweise in den Gründungen des Instituts für Entwicklung und Frieden (1990) und des Bonn International Center for Conversion (1994) wider, deren thematische Schwerpunkte auf die Bedeutung neuer Formen der Kriegsführung oder interdependente Konfliktursachen nach dem Ende der Blockkonfrontation verweisen. Die Etablierung fachspezifischer Studiengänge – wie am IFSH im Jahr 2002 – und die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung um die Jahrtausendwende stellen den bisherigen Abschluss dieser Entwicklung dar. Trotz vieler Unterschiede wurden die Aufträge all dieser Institute wesentlich durch konkrete politische und gesellschaftliche Problemlagen begründet.

Politisch und gesellschaftlich turbulente Zeiten

Die vergangenen Jahre zeigen also keine zufällige Häufung von Institutsjubiläen, sondern sie sind auch Ausdruck eines Phasenübergangs. Der erfolgt in einer Zeit erneuter politischer und gesellschaftlicher Turbulenzen, die durch besondere Komplexität und Unsicherheit geprägt sind. Wissenschaftliche Expertisen aus der Friedens- und Konfliktforschung zu diesen Herausforderungen sind daher heute wieder in besonderem Maße gefordert. Möchte die Friedens- und Konfliktforschung auch zukünftig eine gesellschaftlich und politisch relevante Wissenschaft sein, muss sie diese Umbrüche für eine Reflexion ihrer methodischen und theoretischen Grundlagen nutzen.

Der gesellschaftliche Frieden rückt in den Mittelpunkt

Erstens ist dies die (Rück-)Besinnung auf Herausforderungen des gesellschaftlichen Friedens und der inneren Sicherheit. Während die Forschung einen umfangreichen Wissensbestand zu den Erfolgsbedingungen multilateraler Kooperationsmechanismen oder lokalen Friedensbildungsprozessen in außereuropäischen Regionen hat, wissen wir vergleichsweise wenig über die Bedingungen und Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben hier vor Ort. In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und der Infragestellung grundlegender demokratischer Prinzipien, etwa die Nichtanerkennung von Wahlergebnissen oder die Popularität von Verschwörungstheorien, erscheint eine stärkere Fokussierung auf die Grundlagen gesellschaftlichen Friedens daher unabdingbar. 

Neue Informations- und Kommunikationstechnologien als Herausforderung

Zweitens muss die Friedens- und Konfliktforschung die schnelle Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien stärker reflektieren. Die weitreichende Digitalisierung zahlreicher Lebensbereiche, die Entwicklung sog. „neuer Technologien“ und die mit ihnen verbundenen Chancen und Risiken werden auch die Friedens- und Sicherheitspolitik fundamental verändern. Neben den Risiken muss die Forschung auch das Potential neuer Technologien für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt, für neue Formen demokratischer Partizipation auf globaler Ebene oder für den Schutz von Zivilist*innen und militärischem Personal in den Blick nehmen. 

Der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Sicherheit weltweit

Drittens kommt die Friedens- und Konfliktforschung nicht umhin, sich mit den größten epochalen Herausforderungen unserer Zeit zu beschäftigen: den Folgen der Klimakrise und des Biodiversitätsverlusts. Wir wissen mittlerweile, dass es einen Zusammenhang zwischen Klimaveränderungen, gesellschaftlicher Vulnerabilität und politischen Instabilitäten gibt. Die Friedens- und Konfliktforschung muss hier Nachhaltigkeit im doppelten Sinne beforschen: Indem sie das friedens- und sicherheitspolitische Potenzial einer Politik der Nachhaltigkeit untersucht und damit auch Voraussetzungen und Bedingungen für einen nachhaltigen Frieden identifizieren kann.

Neue Zielgruppen im Blick

Schließlich sollte die Friedens- und Konfliktforschung Vielfalt und Diversität als Chance für innovative und gesellschaftlich relevante Forschungsansätze verstehen. Dies gilt mit Blick auf heterogene globale Wissensbestände, die eine „Provinzialisierung“ europäischen Wissens erfordern. Es gilt aber auch mit Blick auf die Frage, wer eigentlich die Adressat*innen unserer Forschung sind und wie sehr sich das Feld für gesellschaftliche Akteure öffnen möchte. Die Nutzung neuer partizipativer Methoden, etwa durch die aktive Einbeziehung von Bürger*innen in den Forschungsprozess durch die gemeinsame Identifikation von Problemlagen, bieten das Potenzial, auch den Forschungsprozess selbst diverser und repräsentativer zu machen.


Die gegenwärtigen Umbrüche sind tiefgreifend und verlangen von der Friedens- und Konfliktforschung die Suche nach neuen Fragen, Erklärungsansätzen und Methoden. Der Blick in die Geschichte des Felds zeigt aber: Vieles davon ist so neu wiederum vielleicht gar nicht. Turbulente Zeiten gaben bereits früher wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung und sollten es auch zukünftig tun.