Warum ist in den 1990er Jahren die erhoffte Friedensdividende nicht ausgeschüttet worden?
Prof. Dr. Michael Brzoska erläutert, warum auch nach dem Ende des Kalten Krieges die Friedensforschung wichtiger denn je ist:
Die Hoffnungen auf ein Ende von Wettrüsten, Militarisierung und Krieg hätten kaum größer sein können als nach dem friedlichen Ende des Kalten Krieges 1989/1990. Die ehemaligen Konfliktparteien in Ost und West unterzeichneten mehrere Abrüstungsverträge, wie den KSE- Vertrag (Konventionelle Streitkräfte in Europa) und die Chemie- und Toxin-Waffenkonvention. Die Militärausgaben der Hauptkontrahenten des Kalten Krieges sanken um ein Drittel.
Aber schon Mitte der 1990er Jahren kam der Prozess ins Stocken. Es folgte eine längere Phase wachsenden Misstrauens bei gleichzeitig von allen Seiten beschworenem Willen zur Verbesserung der Beziehungen. Spätestens seit 2014 mit dem Krieg in der Ost-Ukraine und der russischen Annexion der Krim überwiegt die Konfrontation.
Wie konnte es dazu kommen? Warum waren das Ende der Gefahr eines vernichtenden Atomkrieges und die großen Einsparungen bei den Staatshaushalten nicht hinreichend attraktiv, um den Rückfall in die alte Konfliktkonstellation zwischen Russland und dem Westen zu verhindern?
Die Antworten auf diese Frage fallen sehr unterschiedlich aus. Im Westen wird beklagt, dass Russland immer autoritärer und aggressiver wurde, sowohl im Inneren wie gegenüber den Nachbarn. Statt sich seiner Wirtschaftskraft – sie entspricht der Italiens – angemessen zu benehmen, zeige Russland das Verhalten einer militärischen Großmacht. In Russland wiederum wird auf ein zunehmendes Näherrücken der NATO – die im Gegensatz zum östlichen Pendant des Warschauer Paktes nicht nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelöst worden war – an die russische Grenze verwiesen. Zudem hätten die Vereinigten Staaten die Zeit russischer Schwäche genutzt, um zu versuchen an vielen Orten der Welt ihre Interessen und politischen Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen.
Die Friedensdividende der frühen 1990er Jahre verpuffte also rasch – weil sie weder ökonomisch noch politisch sinnvoll genutzt wurde. Ökonomisch profitierten vor allem die stärksten Volkswirtschaften. Die USA erlebte einen Wirtschaftsaufschwung. Deutschland konnte einen Gutteil der Kosten der Einheit durch Einsparungen bei den Militärausgaben kompensieren. Russland hingegen erlebte eine tiefe Wirtschaftskrise. Aus dem Westen kamen viele Ratschläge, die die Krise in Russland eher vertieften, aber kaum wirksame Hilfe. Politisch sah der Westen Russland nicht mehr als ernstzunehmenden Partner für Frieden und Sicherheit.
Aus der Friedensforschung kamen sehr früh warnende Stimmen. Ein am IFSH unter der Leitung von Egon Bahr erarbeiteter Vorschlag für eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung fand kaum politische Resonanz. Der ehemalige Wissenschaftliche Direktor des IFSH, Dieter S. Lutz, warnte schon 1993: „Daß keines der gravierenden Probleme Europas gelöst werden kann, solange die Sicherheitsfrage nicht gelöst sein wird, macht die Neuordnung der europäischen Sicherheit zu einem dringenden Erfordernis. Die vorhandenen internationalen Organisationen haben diese Herausforderung nicht bestanden.“
Aus Sicht der Friedensforschung kann es keine Genugtuung sein, mit ihrer kritischen Einschätzung Recht behalten zu haben. Im Gegenteil ist doch das „Déjà-vu“, das aktuelle Wiedersehen mit der Konfliktstruktur des Kalten Krieges, Grund für Enttäuschung aber auch Ansporn. Es bleibt Aufgabe der Friedensforschung, die Gefahren des Konfliktes zu analysieren und wissenschaftlich fundierte Vorschläge für die Sicherheitspolitik zu machen.