Das heute vorgestellte Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr ist ein Schritt in die richtige Richtung. Besser als in früheren Weißbüchern wird das sicherheitspolitische Umfeld ausführlich beschrieben. Die Interessen, die die deutsche Sicherheitspolitik verfolgt, werden klar benannt. Das Weißbuch formuliert eine lange Liste von "strategischen Prioritäten". Demgegenüber sind die Ausführungen zur Bundeswehr und deren Zukunft eher luftig. Zu "weichen" Themen wie der Personalpolitik finden sich konkretere Ausführungen als etwa zu Streitkräftestruktur und Beschaffungsplanung - Themen, die in vergangenen Weißbüchern ausführlich behandelt wurden. Insgesamt gehen die Verantwortlichen für das Weißbuch damit in Richtung auf ein von vielen Kritikern gefordertes Gesamtkonzept der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik.
Es bleibt aber ein zu kurzer Schritt, weil es nur in Teilen die "strategische Standort- und Kursbestimmung" vornimmt, die im Vorwort angekündigt wird. In einer Strategie müssten nicht nur Ziele, Interessen und strategischen Prioritäten, sondern auch die Mittel zu deren Erreichung umfassend beschrieben und aufeinander bezogen werden. Dabei sind im Rahmen einer Strategie immer Schwerpunkte des Mitteleinsatzes und der Zielerreichung zu setzen. Das aber erfolgt im Weißbuch nicht. Andere Instrumente der Sicherheitspolitik als die Streitkräfte, wie Diplomatie, Entwicklungs-, Umwelt- oder Handelspolitik, werden nur relativ knapp erwähnt. Grundlegend Hinweise dazu, welche Instrumente wann besonders geeignet wären, um sich den gesteckten Zielen zu nähern, und was daraus für deren Bedeutung, auch in finanzieller Sicht folgt, fehlen weitgehend.
Grundsätzlich wird von allem mehr gefordert - was angesichts weiterhin knapper Kassen nicht realisiert werden kann. Etwas ausführlicher behandelt wird nur die Bundeswehr. Hier wird das in der NATO beschlossene Ziel, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für die Bundeswehr auszugeben, wiederholt - allerdings über eine längere Zeitspanne gestreckt. Das Gewicht, das die Bundeswehr im Weißbuch hat, ist leicht erklärlich, lag doch die Federführung beim Bundesministerium der Verteidigung. Aber diese Schwerpunktsetzung führt dazu, dass einmal mehr dem Eindruck - dem im ersten Teil des Weißbuchs ausdrücklich widersprochen wird - Vorschub geleistet wird, dass Sicherheitspolitik weitgehend eine Sache des Militärs ist. Und sie führt auch dazu, dass andere Ministerien, wie das Auswärtige Amt, die ebenfalls für Aspekte der Sicherheitspolitik zuständig sind, schon begonnen haben, an einem neuen sicherheitspolitischen Dokument, den Leitlinien für Krisenengagement und Friedensförderung arbeiten. Auch im Weißbuch finden sich zum wiederholten Male hehre Absichtserklärungen, die "ressortübergreifende Strategieentwicklung" auszubauen, aber die Praxis spricht einmal mehr eine andere Sprache.
Inhaltich ist die Standortbestimmung ohne große Überraschungen. Sie umschreibt zutreffend die in den letzten Jahren gewachsenen sicherheitspolitischen Probleme. Deutlich ist im sicherheitspolitischen Teil des Weißbuchs die Handschrift des Auswärtigen Amtes erkennbar, etwa wenn es um das Verhältnis zu Russland geht. So heißt es im Weißbuch: "Deutschland hält am langfristigen Ziel einer strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und Russland fest". Zur Grundlegung deutscher Sicherheitspolitik wird die Präambel des Grundgesetzes mit der Formulierung "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt" dienen zu wollen, zitiert. Daraus wird im Weißbuch gefolgert, dass es um "mehr als die Abwesenheit von Krieg und die Sicherheit unseres Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger" gehe, nämlich auch darum "die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens nachhaltig zu verbessern sowie internationale Menschenrechtsnormen zu wahren und zu stärken". Über die "klassischen" Ziele der Sicherheitspolitik hinaus werden daher auch die Erhaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung sowie die Förderung des verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern benannt. Das Weißbuch spiegelt damit die Diskussion der letzten Jahre über die gestiegene Verantwortung Deutschlands für die Bearbeitung globaler Probleme.
Ein solch umfassendes Sicherheitsverständnis führt allerdings leicht zur Überdehnung der eigenen Ansprüche und Möglichkeiten. Anders als in der jüngst vorgestellten "Global Strategy" der Europäischen Union, die eine Fokussierung der eigenen Aktivitäten auf die im Osten und Süden angrenzenden Räume vorsieht, erfolgt im Weißbuch keine regionale Prioritätensetzung. Stattdessen schleicht sich dann doch immer wieder eine Verengung auf "klassische" sicherheitspolitische Ziele ein. So etwa bei der Benennung relevanter internationaler Organisationen. Im Weißbuch wird an vielen Stellen betont, dass die nationalen Mittel zur Gestaltung des sicherheitspolitischen Umfeldes begrenzt sind und durch Einbindung Deutschlands in multinationale Organisationen gehebelt werden müssen. Diesen ist - von den Vereinten Nationen über die NATO und die Europäische Union bis zur OSZE - ein ganzer Abschnitt gewidmet. Keine Beachtung finden dabei Organisationen, die für ein umfassendes Sicherheitsverständnis durchaus auch von Bedeutung gewesen wären, wie etwa die internationalen Finanzinstitutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds. Auch dazu, wie das Ziel eines "verantwortungsvollen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern" erreicht werden soll, finden sich im Weißbuch lediglich wolkige Hinweise.
Das Schwanken zwischen einem engen und einem weiten Konzept von Sicherheit wird vor allem in einer Frage deutlich, die im Umfeld der Veröffentlichung des letzten Weißbuches im Jahre 2006 besonders umstritten war, nämlich die Versorgungssicherheit mit Rohstoffen und Energie als nationalem Ziel. Auch im aktuellen Weißbuch findet sich diese strategische Priorität: unsere Wirtschaft ist auf "gesicherte Rohstoffzufuhr und sichere internationale Transportwege angewiesen". Unklar bleibt aber weiterhin, welche Rolle die Bundeswehr bei der Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung haben soll. Im Weißbuch werden die Sicherheit maritimer Versorgungswege und die Garantie der Freiheit der Hohen See genannt. Aber reicht der Schutz internationaler Handelswege, um nationale Versorgungssicherheit zu gewährleisten? Was ist, wenn eine Regierung eines Landes, das in erheblichem Maße über Rohstoffe verfügt und Energie herstellt, beschließt, diese nicht mehr zu exportieren? Ist das ein Grund, um die Bundeswehr einzusetzen? Wohl nicht, aber die Formulierungen im Weißbuch bleiben trotz der langen Diskussion über diese Fragen vage.
Der gegenüber dem sicherheitspolitischen deutlich kürzere Teil des Weißbuchs, der der Bundeswehr gewidmet ist, ist offensichtlich von dem Interesse geprägt, die Forderung nach mehr finanziellen Ressourcen zu unterfüttern. Auf der Grundlage des Arguments, dass man sicherheitspolitisch auf alles gefasst sein müsse, wird der Anspruch erhoben "unsere strategische Prioritäten simultan zu verfolgen". Vorbei die Zeiten der "Armee im Einsatz", jetzt sollen Landes- und Bündnisverteidigung, internationales Krisenmanagement, Heimatschutz sowie Partnerschaft und Kooperation auch über EU und NATO hinaus gleichrangig Aufgaben der Bundeswehr sein. Kein Wunder, dass festgestellt wird, dass dies nur durch umfassende Modernisierung und den Ausbau der Bundeswehr erreicht werden kann. Was dies, über das Zwei-Prozent-Ziel hinaus, bedeutet, wird im Weißbuch nur angedeutet, und wird dann wohl in nachfolgenden Dokumenten, wie Verteidigungspolitischen Richtlinien, nachzulesen sein.