Alfred Nobel wollte mit einem der aus seinem Erbe gestifteten Preise die Person auszeichnen, die „am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen hingewirkt hat“. Das von ihm in seinem Testament 1895 bestimmte Preisgremium, ein „Ausschuss von fünf Personen, die vom norwegischen Storting gewählt werden“, hat diese Bestimmung allerdings zunehmend weiter ausgelegt. So sind Friedensnobelpreise auch schon an Umweltaktivisten, wie die Kenianerin Wangari Maathai im Jahre 2004, und Entwicklungsexperten, wie den Bangladeshi Muhammad Yunus im Jahre 2006 verliehen worden. Besonders häufig sind in jüngerer Zeit Menschenrechtsaktivisten ausgezeichnet worden.
Vor dem Referendum am 2. Oktober wurden die Akteure im Friedensprozess in Kolumbien als Favoriten für den Preis gehandelt. Nach mehr als fünf Jahrzehnten Krieg mit mehr als 200.000 Todesopfern schlossen die wichtigste bewaffnete Oppositionsgruppe, die FARC und die kolumbianische Regierung einen Friedensvertrag. Unterzeichner des als endgültig bezeichneten Vertrages waren am 25. August die Chefunterhändler Humberto de la Calle auf der Seite der Regierung und Iván Márquez auf der Seite der FARC für die politisch Verantwortlichen, den kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos und den FARC-Führer Rodrigo Londoño Echeverri, auch bekannt unter den Kampfnamen Timoleón Jiménezund Timochenko. Auch nach dem Referendum bleiben sie für ihre Bereitschaft, den Friedensprozess einzugehen, preiswürdig, wenn auch dessen Ausgang nun nicht mehr sicher ist. Aber das Nobelpreiskomitee hat schon häufiger mit der Preisverleihung weniger vergangene Leistungen auszeichnen als Zeichen für eine bessere Zukunft setzen wollen. Möglicherweise erhöht das innenpolitische Machtspiel zwischen Präsident Santos und seinem Vorgänger Alvaro Uribe um das Referendum die Chancen von kolumbianischen Friedensaktivisten, zum Beispiel die Organisation Ruta Pacífica de las Mujeres, die mit vielfältigen Aktionen dazu beigetragen hat, dass der Anteil von Frauen, die am Friedensprozess beteiligt waren, im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch ist. Die Bedeutung, die Fragen von Strafverfolgung oder Amnestie für ehemalige Kämpfer im kolumbianischen Friedensprozess haben, könnte das Komitee aber auch veranlassen, Bemühungen um „Transitional Justice“ auszuzeichnen. Infrage kämen dann etwa dasInternational Center for Transitional Justice, das weltweit Erfahrungen in diesem Feld sammelt und Akteure berät, oder die ehemaligen obersten Ankläger des Jugoslawien-Tribunals, Richard Goldstone und Luise Arbour.
Schon im letzten Jahr galt vielfacht das im Juli 2015 abgeschlossene Nuklearabkommen zwischen den USA und dem Iran als besondere Leistung im Sinne Nobels. John Kerry und sein iranischer Verhandlungspartner, Außenminister Mohammad Javad Zarif, aber auch die Verhandlungsführerin für die EU, Federica Mogherini, wurden als Kandidaten für den Preis genannt. Trotz starker politischer Anfeindung, insbesondere in den USA aber auch in Israel und im arabischen Raum, ist das komplizierte Abkommen bisher von beiden Seiten vertrauensvoll umgesetzt worden. Krister Harpviken, der Direktor des norwegischen Friedensforschungsinstituts PRIO, hat daher Ernest Moniz, den US-amerikanischen Energieminister, und Ali Akbar Salehi, den Vorsitzenden der iranischen Atomenergiekommission, auf seine Liste der Favoriten auf den Friedensnobelpreis 2016 gesetzt. Beide sind Physiker, die gleichzeitig am MIT in Cambridge, USA, studiert (Salehi) und gelehrt (Moniz) haben; möglicherweise ein Grund, warum sie auch schwierige technische Fragen der Umsetzung des Abkommens vertrauensvoll aushandeln konnten. Möglicherweise könnte auch eine der Personen ausgezeichnet werden, die die Verhandlungen im Hintergrund befördert haben. Ein Kandidat wäre dann Sultan Qubus ibn Said, Herrscher im Oman. Er hat über mehrere Jahre inoffizielle Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran vermittelt. Gegen ihn spricht allerdings, dass sein Staat kein Vorbild in Sachen Demokratie ist. Immerhin ist der Oman im Mittleren Osten einer der friedlichsten Orte, nicht zuletzt wegen des auf Ausgleich bedachten Herrschers. Das Nobelkomitee könnte auch hier ein Zeichen für die gegenwärtig weltweit konfliktreichste Region setzen wollen.
Das vielleicht wichtigste internationale Abkommen, das seit der letzten Friedensnobelpreisvergabe abgeschlossen wurde, ist das Klimaabkommen von Paris vom Dezember 2015. Schon einmal ist der Preis vergeben worden, weil das Nobelkomitee im Klimawandel eine große Gefahr für den Frieden sieht. 2007 erhielten der ehemalige US-amerikanische Vizepräsident Al Gore und der Internationale Klimarat den Preis. 2016 könnten es die Führer der Verhandlungen von Paris sein, wie der französische Außenminister Laurent Fabius oder die damalige Generalsekretärin des Sekretariats der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, die costarikanische Diplomatin Christiana Figueres. Auch dieser Erfolg wäre ohne den Druck gesellschaftlicher Organisationen nicht zustande gekommen, zum Beispiel der C40 Cities Climate Leadership Group, eines Zusammenschlusses der Bürgermeister von Megastädten, hinter dem der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Städte und Klimawandel und frühere Bürgermeister von New York Michael Bloomberg steht.
Klassische Abrüstungsabkommen sind im letzten Jahr nicht abgeschlossen worden. Im Gegenteil wird weltweit aufgerüstet. Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungszentrums SIPRI sind die weltweiten Militärausgaben wieder auf ein Niveau angestiegen, das dem während des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre entspricht. Eine der wenigen politisch aufstrebenden Gegenbewegungen ist die „humanitäre Initiative“ für das Verbot des Einsatzes von Nuklearwaffen. In deren Kontext hat am 23. August eine Mehrheit interessierter Staaten den Beginn von Verhandlungen über einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag im Jahre 2017 beschlossen. Treibende Kräfte waren verschiedene Nichtregierungsorganisationen, wie die Nuclear Peace Age Foundation mit ihrem Präsidenten David Krieger oder die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) aber auch der österreichische Diplomat Alexander Kmentt. Parallel dazu hat die Regierung der Marshall-Inseln ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zum Verbot von Nuklearwaffen angestrengt. Eine treibende Kraft ist hier der ehemalige Außenminister der Marshall-Inseln, Tony de Brum.
Auch auf innerstaatlicher Ebene ist eine Art von Rüstungskontrolle das Ziel verschiedener Organisationen, zum Beispiel in den USA. Eine der Aktivistinnen dort ist die frühere Abgeordnete Gabby Gifford, die selber Opfer eines Schusswaffenattentats wurde.
Menschenrechte werden in vielen Staaten der Welt verletzt, an vielen Orten riskieren Menschenrechtsaktivisten ihr Leben und ihre Existenz, um das zu ändern. Viele Personen haben den Friedensnobelpreis verdient. Möglicherweise könnte es diesmal jemand aus Russland sein. Trotz zahlreicher Nominierungen und Spekulationen in den letzten Jahren ist seit Michael Gorbatschow im Jahre 1990 keine Person oder Gruppe aus Russland ausgezeichnet worden. Kandidaten sind zum Beispiel die Organisationen Memorial und Soldatenmütter, die sich in den letzten beiden Jahren vor allem um die Familien von in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten gekümmert hat. Beide Organisationen sind von starken Frauen geprägt worden, Svetlana Gannushkina und Ella Poljakova.
Möglicherweise will das Nobelkomitee aber einmal mehr ein Zeichen dafür setzen, wo ein Beitrag zum Frieden in einem sehr weiten Sinne dringend notwendig wäre. Die Zahl der Flüchtlinge ist auf Rekordniveau gewachsen – nach Schätzung des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge auf mehr als 65 Millionen Menschen. Denkbar wäre daher die Verleihung des Preises an eine der großen Organisationen, die Flüchtlinge unterstützen, wie die Internationale Organisation für Migration oder das Hochkommissariat, das allerdings schon zweimal, 1954 und 1981, Preisträger war, aber auch an eine Nichtregierungsorganisation, wie Médecins Sans Frontières, Preisträger von 1999, oder die Migrant Offshore Aid Station, die Boote im Mittelmeer zur Rettung von Schiffbrüchigen bereitstellen, oder an ganze Bevölkerungsgruppen, die sich um Flüchtlinge gekümmert haben, wie die Bewohner der Ägäischen Inseln. Nicht zuletzt Papst Franziskus und Angela Merkel sind wegen ihrer Haltung während des Flüchtlingsdramas im Herbst 2015 als Kandidaten für den Preis genannt worden.
Das Nobelpreiskomitee wird auch in diesem Jahr eine größere Zahl von Kandidaten, Personen wie Organisationen, genauer unter die Lupe genommen haben. Die Wahl des oder der Preisträger oder Preisträgerin wird am Ende keine leichte Entscheidung gewesen sein. Gut möglich, dass erstmals wieder seit 1992, als die guatemaltekischen Menschenrechtsaktivisten Rigoberta Menchú ausgezeichnet wurde, eine Person aus Lateinamerika den Preis entgegennehmen kann. Aber das Nobelpreiskomitee hat zahlreiche Alternativen und ist immer für Überraschungen gut.
Favoriten
Juan Manuel Santos und Rodrigo Londoño Echeverri, Kolumbien
International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) und Alexander Kmentt, Österreich
Svetlana Gannushkina, Russland
Internationale Organisation für Migration
Weitere Im Text genannte Personen und Organisationen
Ruta Pacífica de las Mujeres, Kolumbien
International Center for Transitional Justice
Richard Goldstone, Südafrika, und Luise Arbour, Kanada
John Kerry, USA , Mohammad Javad Zarif, Iran, Federica Mogherini, Italien
Ernest Moniz, USA, und Ali Akbar Salehi, Iran
Sultan Qubus ibn Said, Oman
C40 Cities Climate Leadership Group und Michael Bloomberg, USA
Nuclear Peace Age Foundation und David Krieger, USA
Tony de Brum, Marshall Inseln
Gabby Gifford, USA
Ella Poljakova, Russland
Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
Médecins Sans Frontières
Migrant Offshore Aid Station
Papst Franziskus
Angela Merkel, Deutschland