Hohe ehemalige Politiker und Militärs aus den USA haben vorgeschlagen, angesichts der Offensive der Aufständischen in der Ostukraine die Regierung in Kiew mit Kriegsgerät zu unterstützen. Washington solle darüber hinaus richtig Geld für die militärische Stärkung der Ukraine in die Hand nehmen: je 1 Mrd. US-Dollar für die Jahre 2016 und 2017. NATO-Partner, die noch mit Waffen und Gerät aus sowjetischer Produktion ausgerüstet sind, sollten dafür gewonnen werden, damit die Ukraine zu stärken. Das Weiße Haus erklärte daraufhin, eine entsprechende Entscheidung sei noch nicht gefallen. Man halte sich aber alle Optionen offen. Eine weise Entscheidung, denn wohin soll ein weiteres Drehen an der Konfliktspirale führen? Zunächst sollte man versuchen, sich darüber klarer zu werden, was der Kontrahent beabsichtigen könnte.
Wichtige Dokumente für eine Einschätzung sind die russischen Militärstrategien und die Äußerungen Putins. Seit einiger Zeit wird die als expansiv wahrgenommene NATO an erster Stelle der aufgeführten militärischen Gefahren genannt. Als größte innere militärische Gefahr wird die innenpolitische Destabilisierung bezeichnet. Darüber hinaus hat Putin die Krim als integralen Bestandteil Russland bezeichnet. Zudem beansprucht er ein Mitspracherecht über die sicherheitspolitische Zukunft der Ukraine, weil sie auch die Sicherheit Russlands berührt. Subjektiv fühlt sich Putin bedroht, objektiv greift er zu den falschen Mitteln, um den eigenen Sicherheitsinteressen Geltung zu verschaffen.
Denn er nutzt dazu das unakzeptable Mittel der hybriden bzw. unkonventionellen Kriegführung. Nach US-Doktrin zielt dieser Ansatz auf die Unterstützung einer Aufstandsbewegung, um eine andere Regierung zu stürzen oder zu einer Verhaltensänderung zu zwingen. Dafür wird eine große Bandbreite von Mitteln eingesetzt. Sie reicht von politischer und wirtschaftlicher Unterstützung über Informationsoperationen bzw. Propaganda bis hin zu militärischer Hilfe in Form von Aufklärung, Führungsunterstützung, Ausbildung, Ausrüstung und den verdeckten Einsatz eigener Spezialkräfte. Dementsprechend operiert Russland weitgehend in einer Grauzone unterhalb des eigenen offenen, direkten Gewaltmitteleinsatzes bei gleichzeitiger Unterstützung des Gewaltmitteleinsatzes der Aufständischen.
Dieser Art der Kriegführung ist schwer beizukommen, weil sie lange auf kleiner Flamme durchgehalten werden kann. Die bisherige Antwort des Westens ist insofern maßvoll, weil sie sich weitgehend auf politische und wirtschaftliche Sanktionen beschränkt. Darüber hinaus hat die NATO auf ihrem Gipfel in Wales Maßnahmen beschlossen, die der Stärkung der kollektiven Verteidigung ihrer östlichen Mitglieder dienen. Sie erhöht die (rotierende)Truppenpräsenz in der Region, verbessert die strukturellen Voraussetzungen für verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit und stellt eine sehr schnelle Eingreiftruppe bestehend aus Land-, Luft-, See- und Spezialkräften auf. Zudem unterstützt sie die Ukraine mit Ausbildung und gemeinsamen Manövern, auch im Lande selbst. Für dieses Jahr stehen elf Manöver auf dem Kalender. Des Weiteren liefern einige NATO-Staaten nicht-letale Waffen. Schließlich kämpfen auf ukrainischer Seite von den Oligarchen bezahlte private „Militärdienstleister“, denn die ukrainischen Sicherheitskräfte sind schwach. Liegt es da nicht nahe, sie mit Waffen und Kriegsgerät zu ertüchtigen?
Wer diese Frage bejaht, sollte das Problem der Eskalationsdominanz bedenken. Der Begriff stammt aus der militärischen Abschreckungsstrategie und beschreibt eine glaubhafte und skalierbare Antwort mit konventionellen, unkonventionellen und nuklearen Mittel auf eine Aggression. Das zugrunde liegende Prinzip ist die politische und militärische Fähigkeit, die Eskalation auf eine höhere Stufe zu heben, um sich dadurch in eine vorteilhaftere Lage zu bringen. Sollte der Gegner mit den gleichen Mitteln antworten, dann müsste die nächste Stufe der Eskalation umgesetzt und dem Gegner glaubhaft kommuniziert werden, dass man gewillt und befähigt ist weiter zu eskalieren. Wer hat in diesem Krieg die Eskalationsdominanz?
Die nächste, von den US-Experten geforderte Stufe ist die Lieferung tödlicher, aber defensiver Waffen. Aber gibt es rein defensive Waffen? Ihre Funktion hängt weitgehend von den taktischen und operativen Bedingungen ab. Natürlich wären etwa die vorgeschlagenen Radargeräte zur Detektion feindlicher Artillerie zur Verteidigung hilfreich, aber eben auch für die nächste eigene Offensive. Als nächster Schritt wäre die Lieferung offensiver Waffen denkbar, erst aus alten sowjetischen Beständen, dann vielleicht modernere, eventuell gleich mit Militärausbildern. Ein weiterer Schritt wäre die Ausbildung im Kampf, wie in Afghanistan praktiziert. Spätestens dann bestünde die Gefahr, auch auf russische Soldaten zu stoßen (camoufliert oder nicht).
Zur Erinnerung: Wir reden von Soldaten einer globalen Nuklearmacht, die sich aus innen- und außenpolitischen Gründen in die Enge getrieben sieht. Es ist unbestritten, dass ihr Handeln völkerrechtswidrig und gefährlich ist. Natürlich kann man auf einen groben Keil noch einen groben Klotz setzen, doch mit welchem Ziel? Mit welchen (unbeabsichtigten) Folgen? Und würde die Eskalationsdominanz wirklich eine Eskalationskontrolle garantieren?
Anstatt sich auf eine weitere Eskalation einzulassen, sollte der Westen seinen Ansatz grundlegend überdenken. Erforderlich ist ein game changer, der die festgefahrene politisch-strategische Situation grundlegend ändert. Drei Dinge sollte man Moskau anbieten: 1. Offenlegen und Kenntnisnahme aller Klagen und Interessen der beteiligten Akteure, 2. Akzeptieren der wechselseitigen Sicherheitsbedürfnisse und 3. allseitige Garantie für die Freiheit der Eigenentwicklung der Ukraine auf der Grundlage der Bündnisfreiheit. Dieser Ansatz folgt dem Grundsatz security first und garantiert die freie Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft. Er dürfte Hardlinern und Ideologen auf beiden Seiten nicht gefallen. Zudem löst er das Krimproblem nicht. Gleichwohl könnte er verhindern, dass aus einem schlimmen Krieg in der Ukraine ein noch schlimmerer Krieg um die Ukraine wird.
Kontakt: Hans-Georg Ehrhart