"Der Krieg wurzelt offensichtlich weniger (...) in den Gesinnungen der Einzelnen, als vielmehr in den Ordnungen und Unordnungen der Gemeinschaften. Seine Ursachen sind trotz der jeweiligen Kriegsgewinnler nicht nur privater, sondern politischer Natur. Sie erwachsen aus Gewohnheiten, Vorurteilen, Sozialordnungen und Herrschaftsformen. Deshalb brauchen wir eine Erforschung dieser Zusammenhänge. Wir brauchen eine Friedensforschung."
Gustav Heinemann, Rede zum 30. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges
1971: Die Welt ist in zwei Blöcke geteilt. Der Osten und der Westen stehen sich feindlich gegenüber. Ihr politischer und ideologischer Machtkampf manifestiert sich vor allem in einem gewaltigen Arsenal an Nuklearwaffen, das zur Zeit des Kalten Krieges gemeinhin als das „Gleichgewicht des Schreckens“ bezeichnet wurde. Das waren die zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen, unter denen das IFSH gegründet wurde. Der damalige Bundespräsident höchstpersönlich war es, der sich bei seinem Amtsantritt 1969 für eine Stärkung der Friedensforschung als akademische Disziplin aussprach. In seiner Antrittsrede forderte er, die Institutionalisierung der noch jungen Disziplin weiter voranzutreiben. Im anglo-amerikanischen Raum waren bereits in den 1950er Jahren Friedensforschungsinstitute gegründet worden. Und so plädierte auch der Wissenschaftsrat 1970 dafür, die „friedensrelevante Forschung verstärkt zu fördern“. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sicherheitspolitischen Themen, so war der Wunsch, sollte mit dazu beitragen, die politische Debatte zu versachlichen und Lösungsansätze aufzuzeigen.Vor allem aber war es Carl Friedrich von Weizsäcker, Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, der sich maßgegeblich für die Gründung eines Friedensforschungsinstituts in Hamburg stark gemacht hatte. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg kam dem Wunsch nach. Am 11. Juni 1971 wurde das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, kurz IFSH, gegründet. Der erste Institutssitz war eine Villa auf einem Hügel hoch über der Elbe in Hamburg - Blankenese, ein Gebäude mit Geschichte: Helmut Schmidt hatte hier 1962 während der norddeutschen Flutkatastrophe als Hamburger Innensenator seinen Dienstsitz.
Die Gründung im Jahr 1971: Das Hamburger Friedensforschungsinstitut wagt einen ganz neuen Ansatz
Das IFSH war nicht das einzige Friedensforschungsinstitut, das Anfang der 1970er Jahre in Deutschland gegründet wurde. Aber das IFSH wagte einen neuen Brückenschlag, den zwischen Friedensforschung und Militär. Ein Friedensforschungsinstitut, das von einem hohen Offizier geleitet wurde - so etwas hatte es bislang noch nicht gegeben. Mit Wolf Graf von Baudissin sollte das Institut einen Gründungsdirektor bekommen, der zuvor in den 1950er Jahren die Bundeswehr mitbegründet und durch seine Idee der „Inneren Führung“ bis heute maßgeblich geprägt hat.
Die Forschung am IFSH sollte praxisorientiert sein, forderte der General: „Zweck der Forschung ist nicht die Beseitigung der Konflikte, das wäre illusionär, sondern ihre Versachlichung, die gleichzeitig Humanisierung bedeutet, und vor allem ihr Austrag mit einem Minimum an Gewaltanwendung. Für dieses Ziel gilt es, Modell, Strategien, Strukturen und Verfahrensweisen zu entwickeln“.
Das Gründungsteam war klein, es bestand zunächst nur aus einem halben Dutzend Wissenschaftler*innen. Trotzdem wurde das IFSH schnell über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt.
1984: Egon Bahr wird neuer Institutsdirektor
Auf einen Bundeswehrgeneral folgte im Direktorenamt eine gestandene und prominente Politikerpersönlichkeit: Egon Bahr, Minister a.D., Verfechter der deutsch-deutschen Annäherung und Entspannungspolitik, übernahm 1984 die Leitung des Instituts. Bahr war Mitglied der sogenannten Palme-Kommission gewesen, die Anfang der 1980er Jahre unter dem Vorsitz des schwedischen Ministerpräsidenten Olaf Palme nach Lösungen für mehr Sicherheit in Europa suchte. Das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ entstand. Es betonte die Interdependenzen und die gemeinsame Verantwortung von Staaten und propagierte, dass Sicherheit mit- statt gegeneinander gesucht werden sollte. In den Folgejahren waren die IFSH-Wissenschaftler*innen maßgeblich an der Ausarbeitung dieses Konzepts beteiligt, das letztendlich zu den Kernprinzipien der KSZE und schließlich OSZE wurde.
Die 1990er Jahre: Mitten in Europa gibt es wieder Kriegstote
Auch nach der weltpolitischen Zeitenwende Ende der 1980er Jahre blieben die Grundsatzfragen der europäischen Sicherheit das zentrale Forschungsfeld des IFSH. In Südosteuropa brachen sich ethnische Konflikte Bahn. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gab es mitten in Europa wieder Kriegstote. Die Russland- und Osteuropaforschung wurden in den 1990er Jahre ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt des Instituts. Im Jahr 2000 wurde im Beisein des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau das Zentrum für OSZE-Forschung, kurz CORE, ins Leben gerufen, eine weltweit einzigartige Forschungsstelle, die die Arbeit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Europa wissenschaftlich begleitet und auswertet.
Die 2000er Jahre: Aufbruch und Neuausrichtung
Ein wichtiger Meilenstein in der Institutsgeschichte war das Jahr 2002. Als eines der ersten Institute in Deutschland führte das IFSH den postgradualen Masterstudiengang „Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ ein. Seitdem durchlaufen jedes Jahr rund 25 junge Hochschulabsolvent*innen den einjährigen Masterstudiengang, der sich durch die Internationalität seiner Studierenden und die Interdisziplinarität des Lehrangebots auszeichnet.
Akademisierung des IFSH – bundesweit erster Aufbaustudiengang für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
2003 wurden das Zentrum für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien (ZEUS) und die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR²) gegründet.
Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 waren zudem neue, nicht-militärische sicherheitspolitische Bedrohungen und Risiken ins Bewusstsein gerückt: der globale Terrorismus und der religiöse Extremismus. In den Folgejahren kamen die Veränderungen durch den Klimawandel und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen durch die Globalisierung hinzu. Auch sie sind mittlerweile fester Bestandteil der Forschungsagenda.
Und: Das IFSH rückte in den 2000er Jahren näher an die Universität Hamburg heran, auch räumlich. Nach 36 Jahren verließ das IFSH das idyllische Villengrundstück am Blankeneser Falkenstein oberhalb des Elbufers und zog 2007 an den Schlump, nur wenige Gehminuten vom quirligen und lebhaften Universitätscampus entfernt.
50 Jahre später beschäftigt sich das IFSH mit ähnlichen Themen
Eine Menge ist also in den vergangenen fünf Jahrzehnten im, mit und auch durch das IFSH passiert. Vieles hat sich geändert, anderes wiederum nicht. Die Bedrohung der Sicherheit in Europa und weltweit durch Aufrüstung und Wettrüsten: Aus den zwei Protagonisten von einst, den USA und der damaligen Sowjetunion, sind mittlerweile mehrere Akteure geworden. Aus dem „Gleichgewicht des Schreckens“ ist ein „Ungleichgewicht des Schreckens“ geworden. Weltweit wird wieder aufgerüstet. Noch mehr Staaten sind mittlerweile im Besitz von Atomwaffen. Weltweit wird mehr für Rüstung ausgegeben als zu den Zeiten des Kalten Krieges. Hinzu kommt der rasante technische Fortschritt, etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der Robotik, der ebenfalls friedens- und sicherheitspolitischen Risiken birgt.
Hier setzt die Arbeit des interdisziplinären Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und neue Technologien an. 2019 gelang es dem Institut vom Auswärtigen Amt den Zuschlag für ein mehrjähriges Großprojekt zu bekommen. Damit wird Hamburg europaweit zu einem der bedeutendsten wissenschaftlichen Kompetenzzentren für Rüstungskontrolle und neue Technologien.
Neue Forschungsschwerpunkte kommen hinzu
Ein weiterer Forschungsbereich beschäftigt sich gezielt mit der Sicherheit in Europa und an seinen Außengrenzen. Die Mitarbeiter*innen des Forschungsbereichs Europäische Friedens- und Sicherheitsordnungen gehen der Frage nach, wie es um das Friedensprojekt Europa bestellt ist, wie die OSZE Krisenregionen stabilisieren kann und wie internationale Polizeimissionen in Konflikt- und Postkonfliktstaaten wirken.
Neben sicherheitspolitischen Themen im engeren Sinne rückten in den vergangenen Jahren zunehmend auch innenpolitische Herausforderungen und gesellschaftliche Verwerfungen in den Fokus der Friedensforschung. Anti-liberale und extremistische Bewegungen, angefeuert durch Hass und Hetze im Internet, gefährden in den westlichen Demokratien den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese neuen Probleme untersucht der Forschungsbereich Gesellschaftlicher Frieden und innere Sicherheit.
Auch der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Krisen und Konflikte weltweit sind mittlerweile Gegenstand diverser Forschungsprojekte am IFSH. Unter anderem im Rahmen des Exzellenzclusters Klima, Klimawandel und Gesellschaft (CliCCS) der Universität Hamburg analysieren IFSH-Wissenschaftler*innen den Zusammenhang von Sicherheit und globalen Umweltveränderungen.
Wie funktioniert Frieden?
Große Stärke und Alleinstellungsmerkmal des Instituts ist seine Interdisziplinarität. Forscher*innen unterschiedlicher Fachdisziplinen beleuchten ein Thema oder eine Fragestellung aus unterschiedlichen Perspektiven. Dies geschieht nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den einzelnen Forschungsbereichen. In unserem neuen Arbeitsprogramm Doing Peace! gehen wir themenbereichsübergreifend einer sehr grundsätzlichen Frage nach: Wie funktioniert eigentlich Frieden? In Zusammenarbeit mit lokalen Kultur- und Bildungseinrichtungen werden wir dabei direkt vor Ort, in Schulen, in den Stadtteilen oder bei der Bürgerbeteiligung in der Landespolitik untersuchen, was die gesellschaftlichen Bedingungen für ein friedliches Miteinander sind und wie Konflikte konstruktiv gelöst werden können.
Die Konstitutionsbedingungen von Frieden sind vielfältig und komplex. Sie zu erkennen und zu verstehen ist die Grundvoraussetzung für Frieden – sowohl im Stadtteil nebenan als auch in den Krisengebieten der Welt.
- "Hamburg gründet ein Institut für Friedensforschung", Die WELT vom 03./04.02.1971