Vergleichende Forschung zeigt, dass Solidarität mit Geflüchteten in Europa besonders ausgeprägt ist, wenn die aufnehmenden Gesellschaften sie als ihnen selbst „ähnlich“ wahrnehmen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu universalistischen Prinzipien, die zum Kern europäischer Identität gehören und in der Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen gründen. Daher sollte

  • der ungleichen Behandlung von Geflüchteten entgegengewirkt und eine kritische Reflexion von Ähnlichkeitsvorstellungen angestoßen werden, und
     
  • die praktische Geltung universalistischer Prinzipien verbessert werden, beispielsweise indem Versorgungslücken systematisch erfasst und geschlossen werden, sowie alle Geflüchteten ein Recht auf Arbeit erhalten.

Die Bereitschaft europäischer Staaten und Gesellschaften, Geflüchtete aufzunehmen, variiert. Dabei gibt es nicht nur Unterschiede zwischen verschiedenen aufnehmenden Ländern. Seit der Eskalation des Kriegs in der Ukraine im Frühjahr 2022 zeigt sich, dass auch die Herkunft der Geflüchteten einen Einfluss darauf hat, mit welcher Hilfe sie rechnen können. In liberalen Gesellschaften braucht es Korrektive zu einer Eigendynamik von Solidarität, die sich von empfundener Ähnlichkeit leiten lässt. Nur so lässt sich dem universalistischen Anspruch des Flüchtlingsrechts gerecht werden, das für alle von Krieg und Verfolgung Betroffenen gleichermaßen gilt.

EU-RICHTLINIE ERLEICHTERT UKRAINISCHEN GEFLÜCHTETEN DAS ANKOMMEN

Für Geflüchtete mit ukrainischer Staatsbürgerschaft aktivierte der Rat der Europäischen Union im März 2022 erstmals die sogenannte „Massenzustrom-Richtlinie“. Statt wie sonst Fluchtmigration nach Europa zu begrenzen, sollte sie nun ermöglicht und erleichtert werden. Die Richtlinie sieht vor, dass keine Asylanträge gestellt werden müssen. Mit dem Aufenthaltstitel geht auch eine Arbeitserlaubnis einher. Der Wohnort kann frei gewählt werden. Massenunterkünfte müssen nur diejenigen in Anspruch nehmen, die anderweitig nicht unterkommen. Und es gibt Anspruch auf Sozialleistungen. Auch einige Nicht-EU-Mitgliedstaaten erließen ähnliche Sonderregelungen. Diese staatliche Unterstützungsbereitschaft wurde durch zivilgesellschaftliches Engagement verstärkt. Hier wurden nicht nur große humanitäre Organisationen, sondern auch unzählige private Initiativen aktiv, die national und auch international Hilfe leisteten. Sie unterstützten Geflüchtete beispielsweise dabei, Wohnungen zu finden, oder organisierten Transporte von Hilfsgütern und Menschen.

BESONDERE VERANTWORTUNG ODER DISKRIMINIERUNG?

So gestaltete sich das Ankommen ukrainischer Geflüchteter deutlich leichter als das von Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und aus anderen von Krieg betroffenen Ländern. Sie waren rechtlich bessergestellt und die Hürden im gesellschaftlichen Alltag niedriger. Diese Praxis steht jedoch im Widerspruch zum universalistischen Anspruch des Flüchtlingsrechts. Es versteht den Schutz vor Verfolgung als Menschenrecht, auf das alle gleichermaßen zählen können. Zudem widerspricht sie der kulturellen Identität Europas, in der universalistische Prinzipien die Basis einer offenen und liberalen Gesellschaft sind.1

„SOLIDARITÄT DURCH ÄHNLICHKEIT WIDERSPRICHT UNIVERSALISTISCHEN PRINZIPIEN.“

Die Politik rechtfertigte die Unterschiede im Umgang mit Fluchtmigration damit, dass gegenüber der Ukraine eine besondere Verantwortung bestehe. Menschenrechtsorganisationen hingegen sahen darin rassistische Diskriminierung, die in der kolonialen Geschichte Europas gründet. Alltagssoziologische empirische Forschung zeigt jedoch, dass beide Argumente zu kurz greifen.

AUFNAHMEBEREITSCHAFT UND ÄHNLICHKEITSVORSTELLUNGEN

Ausschlaggebend für die unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten sind Ähnlichkeits- vorstellungen. Wer genau als ähnlich gilt, entscheidet sich jedoch nicht allein anhand vermeintlich objektiver Kriterien wie Religion oder äußerer Erscheinung. Stattdessen spielen soziale Praktiken und gesellschaftliche Verflechtungen eine entscheidende Rolle. Insbesondere wenn der Alltag und die Lebensumstände von Geflüchteten vertraut wirken, rückt der Kriegs- und Ausnahmezustand näher an die Erfahrung (potentiell) Helfender heran. Der Mehrheitsgesellschaft erscheint der berufliche und familiäre Alltag in Charkiw weniger fremd als der in Herat oder Idlib. In der Folge sind auch die Vorstellungen von den Auswirkungen des Krieges konkreter. Ideen von geteilter Geschichte verstärken diesen Effekt. Auch im Alltag zeigt sich, wie empfundene Ähnlichkeit politisches, gesellschaftliches und behördliches Handeln beeinflusst.

HISTORISCHE UND SOZIALE VERFLECHTUNGEN ALS MOTOR DER SOLIDARITÄT

Ein zentraler Motor für humanitäre Hilfe und Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine sind Nachbarschaftsvorstellungen. Nicht nur geteilte Geschichte, sondern auch geteilte Erfahrungen und oft auch die Wahrnehmung ähnlicher geopolitischer Bedrohungen in den Aufnahmeländern sind hierfür ausschlaggebend. Die so gefühlte Nähe und Verbundenheit zu den Geflüchteten verstärkt zudem das Nachdenken darüber, wie es wäre, selbst in eine solche Notlage zu geraten.

Das Gefühl von Nähe und Vertrautheit und damit der solidarische Umgang mit Geflüchteten werden nicht zuletzt durch familiäre und berufliche Verflechtungen zwischen dem Aufnahme- und dem Herkunftsland bestimmt. So fanden viele Menschen aus der Ukraine Unterkunft bei Angehörigen und Freunden, die ausgewandert waren, oder bekamen Hilfsangebote über Online-Plattformen, auf denen sie aktiv waren. Globale Vernetzung und vorangegangene Migration des sozialen Umfelds erleichtern so die Versorgung nach der Flucht. Umgekehrt waren Familienmitglieder oder Geschäfts-partner:innen in den Aufnahmegesellschaften indirekt von den Fluchtursachen betroffen, wenn durch den Krieg etwa Familienbesuche nicht mehr möglich oder Warenströme unterbrochen waren. So wurden der Kriegszustand und die Disruption des Alltagslebens eher vorstellbar.

AUSGRENZUNG UND SOLIDARITÄT JENSEITS STAATLICHER INSTITUTIONEN

Allerdings zeigt sich, dass es auch bei starker Ähnlichkeitswahrnehmung zu Ausgrenzungen bestimmter Gruppen kommen kann. Denn nicht alle Flüchtenden aus der Ukraine wurden gleichermaßen enthusiastisch empfangen. People of Color (PoC), Angehörige der LGTBQI+-Community und insbesondere Sinti:zze und Rom:nja waren bei ihrer Ankunft im europäischen Raum häufig mit zusätzlichen formalen und informellen Hürden konfrontiert. Aus der Ukraine fliehende PoCs wurden beispielsweise beim Grenzübertritt strenger kontrolliert. Anders als viele andere Geflüchtete aus der Ukraine, die in privaten Wohnungen oder Hotels unterkamen, wurden Sinti:zze und Rom:nja überwiegend in Massenunterkünften untergebracht.

„IN LIBERALEN GESELLSCHAFTEN BRAUCHT ES KORREKTIVE ZUR SOLIDARITÄT DURCH ÄHNLICHKEIT.“

Bisweilen haben sich private Initiativen länderübergreifend zusammengeschlossen und sich diesen Gruppen gegenüber solidarisch gezeigt. Sie funktionierten wiederum nach dem Prinzip der Ähnlichkeit und wurden von Diaspora-Organisationen oder lokalen NGOs getragen. Spezielle Hilfsangebote für aus der Ukraine flüchtende PoCs oder LGTBQI+ entstanden insbesondere dort, wo es bereits gut organisierte Initiativen dieser Gruppen und Netzwerke gab. Diese gruppenspezifische Solidarität konnte fehlende Hilfsangebote ausgleichen und Versorgungslücken schließen. Gleichzeitig ließen sie Gruppen, die weniger gut transnational vernetzt waren, außen vor. Betroffen waren hier vor allem ältere Menschen, ärmere Teile der Bevölkerung ohne familiäre oder anderweitige Verbindung ins Ankunftsland sowie Sinti:zze und Rom:nja.

SOLIDARITÄT AUF BASIS VON ÄHNLICHKEIT: TROTZ ALLEM WIDERSPRUCH ZU DEMOKRATISCHEN PRINZIPIEN

Vorstellungen von Ähnlichkeit und Vertrautheit haben im Kontext der Fluchtmigration aus der Ukraine sowohl auf staatlicher als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene Unterstützung mobilisiert. Gerade in Krisen zeigt sich hier eine wichtige Ressource für Solidarität. Doch läuft ein so begründetes Engagement stets Gefahr, universalistische Prinzipien zu unterminieren, weil das ähnlich Erscheinende gegenüber dem fremd Wirkenden bevorzugt wird.

In liberalen Gesellschaften, die im Bekenntnis zu geteilter Menschlichkeit gründen, braucht es deshalb Korrektive zur Eigendynamik einer Solidarität, die auf Ähnlichkeit beruht. Andernfalls steht der Kern ihrer Identität auf dem Spiel. Europäische Solidarität mit Geflüchteten, die sich implizit am Prinzip der Ähnlichkeit orientiert, gefährdet nicht nur die Leben jener Menschen, die als unähnlich gelten, sondern widerspricht auch den Prinzipien der liberalen Gesellschaft. Jedes Bekenntnis zu demokratischen Zukünften erfordert verstärkte Arbeit an der praktischen Geltung universalistischer Verpflichtungen – nicht nur, aber gerade auch im Bereich des Flüchtlingsschutzes.