Das Gefühl, etwas wert zu sein

Dr. Anne Menzel mit interessanten Einblicken in ihre Feldforschung zu „girls empowerment“ in Sierra Leone

Dr. Anne Menzel sprach in der Hamburger Bar HADLEY'S über ihre Forschung in Sierra Leone. (c) IFSH

Anne Menzel reiste als junge Konfliktforscherin erstmals 2009 ins westafrikanische Sierra Leone. Zwischen 1991 und 2002 herrschte dort ein Bürgerkrieg, unter dem die Zivilbevölkerung massiv litt. Ein erheblicher Anteil der Bevölkerung wurde vertrieben; tausende starben bei Überfällen durch bewaffnete Gruppen, die sierra-leonische Armee und externe Interventionstruppen; insbesondere Mädchen und Frauen waren massiver sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Am Ende war die ohnehin nach Jahren der Misswirtschaft und auferlegter Sparzwänge marode Infrastruktur des Landes weitgehend zerstört. Noch heute zählt Sierra Leone zu den ärmsten Ländern der Welt und ist nach dem Bürgerkrieg, einer Ebola-Epidemie, der Corona-Pandemie und Hyperinflation hoch verschuldet. Im moderierten “Abendsalon”-Gespräch in der Hamburger Bar HADLEY'S berichtete Anne Menzel von ihren Erlebnissen dort. Schnell fiel ihr auf, dass es vor allem im familiären Umfeld Gewalt gegen Frauen gab. Diese Beobachtung sorgte dafür, dass sich die Friedensforscherin genauer mit feministischen Ansätzen und empirischer Forschung zu Geschlechterverhältnissen beschäftigte.

Wie sieht der Alltag von Mädchen in Sierra Leone aus?

Weite Teile der Bevölkerung leben ohne Zugang zu ausreichender Nahrung und sauberem Trinkwasser, zudem überleben die meisten Menschen ohne gesichertes Einkommen – von der Hand in den Mund. Sexuelle Gewalt an Frauen sei auch nach dem Bürgerkrieg ein großes Problem, erklärte die Wissenschaftlerin. Erst auf massiven Druck sierra-leonischer Aktivistinnen und externer Geberorganisationen sei Vergewaltigung vor wenigen Jahren offiziell unter Strafe gestellt worden. Eine gute Ausbildung erscheine vielen in Sierra Leone als Ausweg aus dem Elend – obwohl die Berufs- und Verdienstmöglichkeiten auch für gut ausgebildete Menschen sehr eingeschränkt seien. Um ihr Schulgeld bezahlen zu können, seien minderjährige Mädchen und junge Frauen oft auf die „Unterstützung“ älterer und vergleichsweise bessergestellter Männer angewiesen, die im Austausch dafür von ihnen Sex verlangten. Dies sei gängige Praxis, beobachtete Menzel. Diese sogenannten „boyfriends“ finanzierten beispielsweise ein Smartphone, das den Mädchen den Zugang „zur Welt“ verschaffe, sie übernähmen die Kosten für Schulgeld und Studiengebühren und trügen so nicht selten finanziell zum Überleben der ganzen Familie bei.

Chancen und Grenzen von „girls empowerment“

In Sierra Leone und anderen Ländern des globalen Südens liege der entwicklungspolitische Fokus oft auf Maßnahmen zur Stärkung von Frauen, etwa über Rechtsreformen, Aufklärungskampagnen und Mikrokredite. Eine spezielle Variante solcher Maßnahmen, die vor allem in den 2010er Jahren verbreitet eingesetzt wurde, sei das sogenannte „empowerment“ junger Frauen und Mädchen. Dieses beinhalte zum Beispiel, dass Mädchen überhaupt und nach Möglichkeit lange zur Schule gehen und über Hygiene, Sexualität und die Risiken früher Schwangerschaft aufgeklärt werden sollen. Zudem sollen Mädchen und Frauen mit formalen Rechten ausgestattet werden, die sie beispielsweise vor früher Zwangsverheiratung schützen. „Girls empowerment“, so wird argumentiert, komme nicht nur den Mädchen selbst zugute, sondern sei eine entscheidende Triebfeder für Sicherheit und Entwicklung in Ländern des Globalen Südens: Denn aufgeklärte Mädchen investierten demnach später wieder in die Bildung und Gesundheit ihrer Kinder, hielten sich von gewalttätigen Männern fern und trügen durch ihre Innovations- und Arbeitskraft zu Wachstum in ihren Heimatländern bei – so die Theorie.

Theorie und Praxis klaffen auseinander

Die Lebenswirklichkeit der Mädchen und jungen Frauen sehe jedoch oft anders aus, beobachtete Anne Menzel: ohne „boyfriends“ sei es den jungen Frauen kaum möglich, Schulen und Universitäten zu besuchen und ihr Überleben zu sichern. Hier fordern viele feministische Forscher:innen mehr Aufrichtigkeit und einen Fokus auf die tatsächlich existierenden materiellen Lebensverhältnisse. Anne Menzel fand bei ihrer Feldforschung allerdings auch heraus, dass vielen Mädchen und Frauen die Maßnahmen von „girls empowerment“ Mut und Zuversicht gaben – und dies trotz der Tatsache, dass ihnen der Widerspruch zu ihrer eigenen Lebensrealität durchaus bewusst war. „Girls empowerment“, beobachtete Anne Menzel, gebe den Sierra-Leonerinnen das Gefühl, etwas wert zu sein, was wiederum das Selbstbewusstsein stärke und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nähre. Nur bliebe eine bessere Zukunft weiterhin ungewiss.

Der nächste HADLEY’S Abendsalon mit Beteiligung des IFSH findet am 6. Mai um 19:30 Uhr statt.