Es war der intensivste und verlustreichste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr: In Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 hatte sich Deutschland mehr als 20 Jahre lang in Afghanistan an internationalen Antiterror-, Sicherheits- und Stabilisierungsoperationen beteiligt, bei der Ausbildung von Sicherheitskräften sowie beim Ausbau des Bildungswesens und der Gesundheitsversorgung geholfen. Im August 2021 kam es dann zum plötzlichen vorzeitigen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan – unter chaotischen und teils ungeordneten Umständen. Nahezu ohne Gegenwehr konnten die Taliban innerhalb weniger Wochen weite Teile Afghanistans einnehmen und unter ihre Führung stellen.
Seit September 2022 arbeitet die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ des Deutschen Bundestags das militärische, zivile und entwicklungspolitische Engagement Deutschlands am Hindukusch auf. Neben Abgeordneten aller Fraktionen gehören auch externe Sachverständige dem Gremium an, unter ihnen IFSH-Direktorin Prof. Dr. Ursula Schröder. Am Montag, den 19. Februar hat die Kommission ihren Zwischenbericht vorgestellt. Ursula Schröder beantwortet die wichtigsten Fragen:
Anderthalb Jahre nach dem die Kommission mit der Bestandsaufnahme begonnen hat, ist klar: Beim deutschen Engagement in Afghanistan wurden viele und vor allem grundlegende Fehler gemacht. Die Rede ist von einem „strategischen Scheitern“ – und zwar auf ganzer Linie. Was waren - grob zusammengefasst - die größten Versäumnisse?
Unser Bericht untersucht auf über 300 Seiten detailliert, warum das 20-jährige deutsche Engagement in Afghanistan scheitern musste. Ein Ergebnis zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Analyse: Dem deutschen Engagement fehlte eine grundlegende Strategie, mit der die ambitionierten Ziele der Terrorismusbekämpfung und des Staatsaufbaus in Afghanistan umgesetzt werden sollten. Verstärkt wurde diese Strategielosigkeit durch mangelnde Abstimmung innerhalb der Regierung und fehlende begleitende Bestandsaufnahmen über Fortschritte und Rückschritte des Engagements. Im Ergebnis entstand kein realistisches Gesamtbild der Lage vor Ort und es wurden insgesamt zu wenig Ressourcen eingesetzt, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen. Über die Jahre wurden gerade die zentralen zivilen Aspekte deutschen Engagements strategisch vernachlässigt, da in der öffentlichen Wahrnehmung und den parlamentarischen Diskussionen häufig der militärische Anteil des internationalen Engagements im Vordergrund stand. Nicht zuletzt ist die internationale Koalition auch mit ihrem Ziel der Terrorbekämpfung strategisch gescheitert: eine erfolgreiche Terrorbekämpfung im Sinne einer nachhaltigen Eindämmung terroristischer Gewalt gelang nicht.
Deutschland hat sich auch im zivilen Bereich stark in Afghanistan engagiert – in Teilen mit Erfolg: Die medizinische Versorgung im Land verbesserte sich und Kinder, insbesondere Mädchen, hatten endlich die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Wie nachhaltig sind diese Erfolge? Waren die notwendigen Bedingungen für nachhaltige Verbesserung der Situation in Afghanistan gegeben?
Punktuell und zeitlich begrenzt konnte das internationale Engagement Teilerfolge erzielen, insbesondere im Bereich des Zugangs zu Bildung und der Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Gerade Frauen und Mädchen haben in dieser Zeit von der internationalen Präsenz in Afghanistan profitiert. Die Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 machte diese Erfolge zunichte. Insgesamt wurden die lokalen Machtverhältnisse falsch eingeschätzt und die Aufnahmefähigkeit und die Kapazitäten der afghanischen Partner überschätzt. Zentrale Grundvoraussetzungen für den Erfolg internationaler Unterstützung in Afghanistan waren nicht gegeben. Die Ziele der internationalen Koalition waren ambitioniert, aber letztlich unrealistisch hinsichtlich der Einflussmöglichkeiten und der möglichen Wirksamkeit externer Unterstützungsmaßnahmen in Afghanistan.
Nachdem die Enquetekommission die Fehleranalyse abgeschlossen hat, geht es nun im nächsten Schritt darum, Handlungsoptionen für künftige sicherheitspolitische Entscheidungen und militärische Einsätze aufzuzeigen. Wie geht es nun weiter?
Zentraler Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission ist es, die Erfahrungen aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige internationale Krisenbewältigung und Friedensförderung nutzbar zu machen. Die Enquete-Kommission arbeitet bereits mit Hochdruck daran, bis zum nächsten Jahr Handlungsempfehlungen und Reformvorschläge in verschiedenen Feldern deutschen Engagements vorzulegen. Die aktuelle Weltlage macht deutlich, wie notwendig das deutsche Engagement in der Friedensförderung und Krisenbewältigung auch weiterhin sein wird: Die Zahl der Todesopfer durch Kriege und gewaltsame Konflikte ist weltweit so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr, und auch in Europa werden Kriege geführt. Es ist dringend an der Zeit, aus den Entscheidungen der Vergangenheit zu lernen, um Fehler in der Zukunft zu vermeiden.
Den Zwischenbericht der Enquete-Kommission “Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands” vom 19.02.2024 finden Sie auf der Webseite des Deutschen Bundestages.