Nach dem Scheitern in Afghanistan: Lehren für die neue Bundesregierung

Herausgeber*innen des Friedensgutachtens präsentieren Stellungnahme

 

Eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung wird die Aufarbeitung der gescheiterten Afghanistanmission sein. Mit einem Resümee des zwanzigjährigen Bundeswehreinsatzes, einer Fehleranalyse und klaren Handlungsempfehlungen haben sich die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute heute mit einer öffentlichen Stellungnahme an die künftige Bundesregierung und den Bundestag gewandt.

Für Deutschland war die Afghanistan-Intervention ein gravierender Einschnitt in seine Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Sie war der erste Bündnisfall innerhalb der NATO. Und noch niemals zuvor war die Bundesrepublik in vergleichbarem Ausmaß an einem Einsatz beteiligt, der zugleich Terrorbekämpfung, Aufstandsniederschlagung und Staatsaufbau verfolgte – Ziele, die wie sich im Nachhinein gezeigt hat, zu hochgesteckt waren. Der insgesamt zwanzigjährige „Krieg gegen den Terror“ kostete mehr als 900.000 Menschen das Leben. Die materiellen Kosten belaufen sich auf acht Billionen Dollar.

Die neue Bundesregierung wird das krachende Scheitern des Westens am Hindukusch aufarbeiten müssen. Deutschlands führende Friedensforschungsinstitute, die einmal jährlich das renommierte Friedensgutachten herausgeben, haben dazu heute öffentlich Stellung bezogen. In einer gemeinsamen Sonderstellungnahme erläutern die Leitungen des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), des Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens-und Konfliktforschung, des Instituts für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Hamburg (IFSH) und des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen den Afghanistan-Einsatz. Welche Faktoren haben dazu geführt, dass er trotz guter Zwischenerfolge letzten Endes gescheitert ist? Und welche Lehren für künftige Auslandseinsätze ergeben sich daraus für die neue Bundesregierung?

Afghanistan-Erfahrungen nur bedingt auf andere Missionen übertragbar

Höchste Priorität habe jetzt, die deutsche Beteiligung an internationalen Einsätzen unabhängig und ressortübergreifend neu zu bewerten, fordern die Friedensforscher:innen. Künftige Einsätze sollten bereits während der laufenden Mission kritisch überprüft werden, damit gegebenenfalls umgesteuert werden kann. Afghanistan sei zwar ein wichtiger Referenzpunkt. Trotzdem können die dortigen Erfahrungen nicht in Gänze auf andere Auslandsmissionen übertragen werden. Die Afghanistanmission war einer der härtesten Fälle für ein international unterstütztes Staatsaufbauprojekt, die Ausgangsbedingungen dort waren besonders herausfordernd.

Mindestanforderungen für Einsätze beachten

Das Scheitern des Afghanistaneinsatzes bedeute nicht, dass auch andere Missionen versagen müssen. Langjährige Erfahrungen zeigten, dass multilaterale Einsätze in Postkonfliktstaaten dort tatsächlich den Frieden fördern und zum Wiederaufbau des Landes beitragen können. Allerdings müssen dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, resümieren die Forscher:innen. Dazu zählten, dass in dem Land ein Mindestmaß an politischer Stabilität gegeben sei, es eine funktionierende staatliche Infrastruktur gebe und die lokale Bevölkerung die Stabilisierungs- und Aufbaumission mittrage.

Risiken des Einsatzes klar benennen, realistische Ziel setzen

Aber selbst unter optimalen Bedingungen sind solche Einsätze immer auch mit Risiken verbunden. Diese Risiken, die Gefahr eines möglichen Scheiterns sowie probate Exit-Strategien sollten von vornherein miteingeplant und klar kommuniziert werden. Diese Strategien sollten auch Maßnahmen zum verantwortungsvollen Umgang mit Ortskräften einschließen.
Eine weitere Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz ist die Erkenntnis, dass es ein Fehler war, vorrangig auf den Ausbau des Militärs und Polizeiapparates in dem Land zu setzen, gleichzeitig aber den zivilen Sektor zu vernachlässigen. Zudem sollte Deutschland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gegenüber illegitimen Akteuren und Praktiken eine klare Linie vertreten. Vor allem aber sollten die die politischen Ziele eines Einsatzes realistisch sein und präzise kommuniziert werden, fordern die Wissenschaftler:innen.

Europäische Fähigkeiten und Fertigkeiten stärken

Nicht nur Deutschland war für den Afghanistan-Einsatz schlecht vorbereitet, auch die Europäische Union hat als sicherheitspolitischer Akteur eine schwache Figur abgegeben. Insbesondere die dramatische Evakuierungsaktion zum Schluss hat einmal mehr die militärische Abhängigkeit von den USA verdeutlicht. Europa muss dringend seine zivilen und militärischen Fähigkeiten stärken, appellieren die Herausgeber:innen des Friedensgutachtens.

Die ausführliche Stellungnahme sowie Analysen und Kapitel, die seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes in den jährlichen Friedensgutachten erschienen sind, finden Sie auf der Themenseite des Friedensgutachtens unter: friedensgutachten.de.

Die gemeinsame Pressemitteilung vom 30.09.2021 finden Sie hier.

Über die Sonderstellungnahme berichtete unter anderem die Frankfurter Rundschau.

Kontakt
Dr. Stefan Kroll

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