Deutschlandweit sind in den vergangenen Tagen in vielen Städten hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Rechtsextremismus zu protestierten. Auslöser war ein Bericht über ein geheimes Treffen von AfD-Politiker:innen mit führenden Mitgliedern der sogenannten Identitären Bewegung und Vertreter:innen anderer rechtsextremer Gruppierungen. Dabei sollen Pläne zur massenhafte Rückführung von Migrant:innen besprochen worden sein. PD Dr. Martin Kahl ist stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des IFSH und Leiter des Forschungsbereichs Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit und beantwortet zentrale Fragen zum aktuellen Geschehen:
Wie nah stehen sich die AfD und die Identitäre Bewegung? Welche Verbindungen gibt es zwischen beiden Gruppierungen?
Martin Kahl: "Es gibt einen Beschluss des Bundesvorstandes der AfD von 2016, in dem eine Zusammenarbeit mit der Identitären Bewegung (IB) abgelehnt wird. Die AfD von heute ist jedoch nicht mehr die von 2016 und es hat in der Vergangenheit und bis heute immer wieder Treffen und wechselseitigen Austausch von Vertreter:innen der AfD-Parteijugend „Junge Alternative“ und von AfD-Funktionären mit der IB gegeben. Sie sind zum Teil auch in den gleichen Vereinen organisiert. Die IB agiert so neben anderen Vereinen und Organisationen im Vorfeld der AfD. Von der IB strategisch genutzte Begriffe wie „Bevölkerungsaustausch“ oder „Remigration“ werden von AfD-Redner:innen bei öffentlichen Auftritten verwendet, von „Remigration“ wird auch im Parteiprogramm der AfD gesprochen."
In vielen Städten beteiligten sich in den vergangenen Tagen so viele Menschen an den Märschen gegen rechts, dass die Polizei aus Sicherheitsgründen die Demonstrationen vorzeitig beenden musste. Was für ein Signal sendet diese hohe Beteiligung aus und was können die Massendemonstrationen politisch bewirken?
Martin Kahl: "Die Frage der direkten politischen Wirkung steht für die Menschen, die gerade auf die Straße gehen, wohl nicht im Vordergrund. Sie wollen deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie mit den extremen Zielen des Treffens in Potsdam nicht einverstanden sind. Es geht bei den Demonstrationen tatsächlich um ein Signal: Es gibt in Deutschland sehr viele Menschen, die solche Ziele strikt ablehnen, sie sind die Mehrheit und nicht die extrem rechten Zirkel von Potsdam und anderswo. Das schafft ein Gegenbild, ist aber noch keine Strategie. Dennoch sieht man Wirkungen: Die Themen Rechtsextremismus, Massenabschiebungen oder Verfassungsfeindlichkeit der AfD bestimmen gegenwärtig den öffentlichen Diskurs und es wird von Seiten der Politik stärker als bisher über rechtlich zulässige Maßnahmen gegen extrem rechte Umtriebe nachgedacht. Auch die selbstentblößenden Reaktionen aus der AfD auf die Demonstrationen zeigen, dass sie durchaus wirken. Ob das alles die Anhänger:innen dieser Partei beeindruckt, bleibt aber eine offene Frage."
Lassen sich Menschen mit einer gefestigten rechtsideologischen Einstellung überhaupt noch argumentativ erreichen?
Martin Kahl: "Menschen mit gefestigten extrem rechten Einstellungen lassen sich nicht durch Demonstrationen oder Argumente in anderer Form einfach umstimmen. Das wird an der Abwehr deutlich, mit der von rechter Seite auf die Demos reagiert wird. Einstellungen verfestigen sich in langen Prozessen und genauso lang dauern in der Regel Prozesse der Loslösung. Grundsätzlich müssen Einstellungsänderungen von den betreffenden Personen selbst ausgehen, durch Distanzierung von bisherigen Denkmustern, ausgelöst etwa durch Irritationen oder Enttäuschungen in ihrem rechten Umfeld, aber auch durch Veränderungen der eigenen Lebensumstände, neue freundschaftliche oder partnerschaftliche Beziehungen beispielsweise. Menschen mit weniger gefestigten Einstellungen sind durch Argumente eher erreichbar, ob und wie sie wirken, ist individuell sehr unterschiedlich. Enge Freunde haben da größeren Einfluss als der Austausch von Argumenten auf der Straße."
Wie werden Menschen mit konservativem Weltbild zu Anhänger:innen rechtsnationalistischer und rechtsextremer Parteien?
Martin Kahl: "Menschen mit rechtsnationalistischen oder extrem rechten Einstellungen wählen durchaus auch Parteien aus der „Mitte“ oder sogar aus dem linken Spektrum. Letztlich ist es auch eine Frage des Angebots: Fühlten sich Menschen mit solchen Einstellungen früher auch durch die etablierten Parteien vertreten oder gingen nicht zur Wahl, weil sie sich durch keine Partei angesprochen fühlten, so haben sie mit der AfD nun ein Angebot. Einstellungsuntersuchungen legen nahe, dass diese Partei zwar auch aus „Protest“ gewählt wird, viele ihrer Anhänger aber ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Es ist also nicht so, als würden Konservative nun auf einmal AfD wählen, sondern die Menschen mit rechtsnationalistischen oder extrem rechten Einstellungen wandern zur AfD. Den traditionell konservativen Parteien hat es nicht genutzt, die Themen der AfD aufgreifen, um ihre Wählerschaft zurückzugewinnen, da die AfD diese Positionen für ihre Anhängerschaft überzeugender darstellt. Es scheint eher so zu sein, dass durch das Aufgreifen dieser Themen eine Verschiebung des Meinungskorridors entstanden ist, die die AfD stärkt. Dabei haben extrem rechte Einstellungen über die Jahre nicht so deutlich zugenommen, wie häufig angenommen. Erst in den vergangenen zwei Jahren ist hier ein deutlicherer Zuwachs erkennbar. Wahlerfolge konnte die AfD aber bereits vorher verzeichnen."
Zurzeit wird laut über ein AfD-Verbotsverfahren diskutiert. Wie sinnvoll wäre ein solches Parteienverbot?
Martin Kahl: "Es gibt hier eine rechtliche und eine politische Seite, die beachtet werden muss. Rechtlich stellt sich die Frage, ob ein Verbotsverfahren überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Die Hürden liegen hier sehr hoch. Das Scheitern eines Verbotsverfahrens gäbe der AfD einen Legitimitätsschub. Politisch müssen ebenfalls nicht gewünschte Nebenfolgen bedacht werden: Die Einleitung eines Verbotsverfahrens würde es der AfD leicht machen, sich als Opfer darzustellen und das Verfahren als undemokratisch. Das könnte ihr weiteren Zulauf verschaffen. Nach einem Verbot, gäbe es jedenfalls keinen einzigen Menschen mit extrem rechten Einstellungen weniger. Häufig wird argumentiert, dass diese Menschen sich noch stärker radikalisieren könnten. Das halte ich aber für eine offene Frage. Wichtig ist es, über die Frage eines Verbotsverfahrens hinaus andere Handlungsmöglichkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Ansetzen könnte man an dem ideologischen Vorfeld der Partei, an den Vereinen und Netzwerken, die sie unterstützen und deren Wirken einschränken: Etwa durch Vereins- oder Betätigungsverbote, Einreiseverbote für ihre Vertreter:innen oder – soweit rechtlich möglich – die Austrocknung ihrer Finanzierungsquellen."