„Für den Kreml ist es kein Widerspruch, Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren und gleichzeitig die Brutalität im Krieg zu erhöhen. Verhandlungen können immer auch Teil der russischen Kriegstaktik sein.“ (Dr. Regina Heller)
Die Gespräche, die zwischen Kiew und Moskau am 29. März in Istanbul stattfanden, haben einige Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung im Krieg in der Ukraine, mindestens aber auf einen Waffenstillstand, geweckt. Die türkischen Unterhändler lobten sie als „bedeutenden Fortschritt“. Tatsächlich wurde von allen Beobachtern „Bewegung“ in den Gesprächen festgestellt – anders noch als in den Treffen zuvor. Die ukrainische Seite hat detaillierte Vorschläge auf den Tisch gelegt, in denen unter anderem Zugeständnisse hinsichtlich der Neutralität des Landes und Verhandlungen zum Status der Krim und der Ostukraine angeboten werden. Die russischen Unterhändler kündigten an, die Vorschläge zu prüfen und zum Beweis des Entgegenkommens das russische Militär aus der Umgebung Kiews und Tschernihiws abzuziehen.
Die neue Verhandlungsdynamik entfaltet sich vor dem Hintergrund der Realitäten des Kriegsverlaufs: Der ukrainische Widerstand ist groß und ungebrochen, die russische Armee hat Probleme beim Nachschub und zu hohe Verluste in den eigenen Reihen. Die Eroberung größerer Städte gestaltet sich schwierig, sodass die ursprünglichen Ziele – die vollständige Besetzung der Ukraine und ein Regimewechsel – im Moment nicht erreichbar scheinen. Tatsächlich folgte die Ankündigung eines Teilrückzugs aus dem Gebiet um Kiew nur wenige Tage auf die Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums, in der es heißt, die erste Phase des Einsatzes sei „abgeschlossen“ und man wolle sich nun auf die Ostukraine konzentrieren.
Sind die militärischen Kosten des Krieges also so hoch, dass sich Moskau ernsthaft auf Gespräche einlässt? Zweifel sind angebracht. Denn aus russischer Perspektive stehen Verhandlungen nicht unbedingt am Ende einer militärischen Auseinandersetzung bzw. am Anfang eines Friedensprozesses. Sie können immer auch Teil der eigenen Kriegstaktik sein. Wie zum Beweis gehen andernorts, etwa in den Städten entlang der Küste, die Kampfhandlungen unvermindert weiter oder werden sogar ausgeweitet. Ukrainische und westliche Geheimdienste vermuten, dass die Einheiten aus dem Raum Kiew hauptsächlich im Land verschoben oder nur kurzfristig aus der Ukraine abgezogen werden, um Nachschub zu organisieren und sich dann für weitere Kämpfe neu aufzustellen. Die Gräueltaten, die mutmaßlich von russischen Einheiten beim Abzug in Butscha an Zivilisten begangen wurden, zeigen in drastischster Weise, dass der Krieg unvermindert weitergeht.
Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass es für den Kreml kein Widerspruch ist, Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren und gleichzeitig die Brutalität im Krieg zu erhöhen. Moskau hat dabei Verhandlungen genutzt, um seine strategischen Ziele zu verfolgen. So wurde 2015 während den Waffenstillstandsverhandlungen in Minsk die ostukrainische Stadt Debalzewe von pro-russischen Separatisten unter massiven Beschuss genommen, was letztlich dazu führte, dass sich die Ukraine in das aus ihrer Sicht unvorteilhafte Minsker Abkommen drängen ließ. In Syrien wurden zwar mehrere lokale humanitäre Waffenstillstände vereinbart, diese aber von Russland häufig gebrochen oder gar nicht erst eingehalten, sodass humanitäre Korridore nicht eingerichtet oder nicht zur ausreichenden Versorgung und Evakuierung genutzt werden konnten. So wurde der Widerstand auch ohne breitflächige militärische Angriffe schrittweise gebrochen und die Bevölkerung zur Kapitulation gezwungen.
Verhandlungen darüber, wie man in der Ukraine die Waffen zum Schweigen bringen und den Frieden wiederherstellen kann, sind richtig und müssen geführt werden. Grundsätzlich sollte man aber Moskaus demonstrierter Verhandlungsbereitschaft mit Vorsicht begegnen und verstehen, dass Russland nicht notwendigerweise friedensfördernde Ziele mit diesen Gesprächen verfolgt.