Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit steht Europa an der Schwelle eines neuen Wettrüstens mit konventionellen Waffen. Während die Rüstungskontrollregime der 1990er Jahre zerfallen, steigt gleichzeitig das Risiko einer militärischen Eskalation, insbesondere in den Kontaktzonen zwischen der NATO und Russland.

  • Die Bundesregierung sollte die konventionelle Rüstungskontrolle bei NATO-Treffen und Gesprächen mit der russischen Regierung hochrangig auf die Tagesordnung setzen.
  • Da die NATO unter US-amerikanischer Führung als Protagonist konventioneller Rüstungskontrolle derzeit ausfällt, sollte die Europäische Union das Thema aufgreifen.

Dieser Beitrag beruht auf dem RISK-Report (Zellner et al., 2018), der ein klassisches Beispiel einer „Epistemic Community“, einer transnationalen Expertengruppe, darstellt. In diesem Fall bestand sie aus 17 Personen aus sieben Ländern (Deutschland, Lettland, Polen, Russland, Schweiz, Türkei, USA). Der RISK-Report geht davon aus, dass die NATO-Staaten und Russland in den vergangenen Jahren zu einer Politik wechselseitiger Abschreckung zurückgekehrt sind. Damit wurden die Ansätze kooperativer Sicherheitspolitik begraben, die Europa bis in die 2000er Jahre hinein mehr militärische Stabilität beschert und erhebliche Kosten erspart hatten.

Risiken wechselseitiger Abschreckung

Der RISK-Report, entstanden im Rahmen des OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions, gibt innovative Antworten auf diese neue Bedrohungslage. In einigen Aspekten, insbesondere bezüglich der Rolle der EU, geht dieser Text aber über den RISK-Report hinaus.

Das Abschreckungsverhältnis zwischen den NATO-Staaten und Russland, so der Bericht, schlägt sich in den wechselseitigen Bedrohungswahrnehmungen, der Aufstellung der Streitkräfte und dem Übungsverhalten nieder.

Die Bedrohungswahrnehmungen der beiden Seiten sind diametral entgegengesetzt. Die Schuld an der gegenwärtigen Lage trägt immer die andere Seite. Versuche, sich in die Situation des „Anderen“ hineinzuversetzen, finden kaum noch statt. Die Sicht der NATO wird von den neutralen Staaten Finnland und Schweden im Wesentlichen geteilt. Die Streitkräfte rücken näher aneinander. Die NATO hat in Estland, Lettland, Litauen und Polen Truppen in einer Stärke von insgesamt 4.500 Mann stationiert und plant erhebliche Verstärkungskräfte. Russland hat seine Streitkräfte entlang der Grenze zur Ukraine verstärkt und unterstützt die Rebellen im Donbass. Aber auch Schweden hat nach über einem Jahrzehnt wieder Truppen auf der vorgelagerten Insel Gotland stationiert. Gleichzeitig finden Militärmanöver in Größenordnungen wie zu Zeiten des Kalten Krieges statt.

„Ein konventionelles Wettrüsten könnte in allen europäischen Ländern stattfinden.“

Anders als im Kalten Krieg, als es um ganz Europa ging, bezieht sich dieses Abschreckungsszenario heute vorrangig auf die Grenzbereiche zwischen NATO und Russland, insbesondere auf das Baltikum und den Schwarzmeerraum. Ein konventionelles Wettrüsten könnte aber in allen europäischen Ländern stattfinden.

Jedes Abschreckungsverhältnis beinhaltet das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation. Ob dieses Risiko steigt oder sinkt, hängt vom Gleichgewicht zwischen eskalierenden und risikobegrenzenden Faktoren ab. Als wichtigste Eskalationstreiber können Unsicherheit über Absichten und Kräfteverhältnisse, subregionale Konflikte und die nukleare Dimension der Abschreckung gelten. Wichtige stabilisierende Faktoren sind eine wirksame Rüstungskontrolle und der politische Dialog.
Russland nimmt seit 2007 nicht mehr am Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) teil, das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen 2011 (WD11) kann diesen Ausfall nicht kompensieren. Dies führt zu einem Mangel an Informationen, verkürzten Warnzeiten und insgesamt zu wachsender Unsicherheit.

Subregionale Konflikte, insbesondere der Krieg in der Ukraine, können machtvolle Eskalationstreiber sein. Dasselbe gilt für die Nuklearwaffen, insbesondere nach dem Zusammenbruch des INF-Vertrages, der alle landgestützten Marschflugkörper und ballistischen Raketen der USA und Russlands mit Reichweiten zwischen 500 und 5.000 Kilometern verboten hatte.

Diese Risiken könnten durch Rüstungskontrolle und Dialog eingegrenzt werden. Doch der sicherheitspolitische Dialog zwischen NATO und Russland ist so gut wie zusammengebrochen. Was es noch gibt, ist der sogenannte „Strukturierte Dialog“ im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Er geht auf eine Initiative des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier zurück, der 2016 für eine Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa geworben hatte. Der KSE-Vertrag ist politisch tot und militärisch allenfalls noch von begrenzter Bedeutung. Das WD11 lässt eine Reihe von Streitkräftekategorien und Übungstypen außen vor, seine dringende Modernisierung wird derzeit von Russland blockiert. Die letzte Haltelinie konventioneller Rüstungskontrolle besteht aus zwei korrespondierenden Bestimmungen aus der NATO-Russland-Grundakte von 1997 und der KSE-Schlussakte von 1999. In der ersteren verpflichtete sich die NATO, in ihren neuen Mitgliedsstaaten keine „substantiellen Kampftruppen“ dauerhaft zu stationieren, während Russland in der KSE-Schlussakte zusagte, solche Truppen in den Bezirken Kaliningrad und Pskow nicht zusätzlich dauerhaft zu stationieren. Ungeachtet der Tatsache, dass es kein gemeinsames Verständnis des Begriffs „substantielle Kampftruppen“ gibt, herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass beide Verpflichtungen bis heute nicht gebrochen worden sind.

Konventionelle Rüstungskontrolle als Mittel zur Reduzierung militärischer Risiken

Vor diesem Hintergrund schlägt der RISK-Report vor, konventionelle Rüstungskontrolle als Mittel zur Stabilisierung des NATO-Russland-Abschreckungsverhältnisses einzusetzen. Da dessen Risiken primär subregionaler Natur sind, müssen subregionale Rüstungskontrollansätze gefunden werden. Die RISK-Studie schlägt folgende Schritte vor:

Erstens, die Bildung einer Rüstungskontrollzone im Ostseeraum, die groß genug ist, um die Wahrnehmung einer „Pufferzone“ zu vermeiden und um einen hinreichenden Teil der relevanten Streitkräfte einzubeziehen: die drei baltischen Staaten, Polen, Belarus, aber auch größere Teile von Deutschland und Russland.

Zweitens, die zahlenmäßige Begrenzung von Streitkräften in dieser Region auf der Grundlage der Regelungen der NATO-Russland-Grundakte und der KSE-Schlussakte.

Drittens, eine Beschränkung von Manövern in dieser Zone.

Viertens, die Einbeziehung von schnellen Verstärkungskräften und weitreichenden Präzisionswaffen, die außerhalb der Begrenzungszone stationiert sind, in Transparenz- und Verifizierungsregeln.

Und fünftens sollte ein striktes Verifizierungsregime mit einer hinreichenden Zahl von Inspektionen eingeführt werden.

„Eine wirksame Rüstungskontrolle und der politische Dialog sind wichtige stabilisierende Faktoren.“

Ein solcher subregionaler Ansatz sollte auf vorhandene Instrumente wie das WD11, die NATO-Russland-Grundakte und die KSE-Schlussakte zurückgreifen und diese anpassen statt auf einen vollständig neuen Vertrag abzuzielen.

Eine politische Initiative zu diesen Vorschlägen des RISK-Reports ist überfällig. Da dies allein aus der NATO heraus nicht zu erwarten ist, sollte sich die Europäische Union (EU) des Themas annehmen. Mit Ausnahme der Nichtverbreitung von Kernwaffen hat die EU bisher das Thema Rüstungskontrolle nicht bearbeitet. Mit eigenen Initiativen zu konventioneller Rüstungskontrolle könnte die EU aber den Druck auf die USA erhöhen, sich zu bewegen. Dagegen wird eingewandt, dass die EU dazu kein Mandat habe und keine Truppen in der baltischen Region. Doch mandatieren kann sich die EU selbst, und mit der Nichtverbreitung von Kernwaffen konnte sie sich auch befassen, ohne selbst darüber zu verfügen. Wer wie die EU eine sogenannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) im militärischen Bereich verfolgt, sollte diese durch Rüstungskontrolle ergänzen. Wer dies unterlässt, untergräbt das im Westen bisher (fast) allgemein geteilte Grundverständnis einer Parallelität von Verteidigung und Rüstungskontrolle.