China hat sein Nukleararsenal in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt und besitzt nun nach den USA und Russland die weltweit drittgrößte Zahl an Atomwaffen. Im Westen wächst die Sorge, Peking könnte von seiner bisherigen Politik des „No-First-Use“ abrücken und in einen nuklearen Rüstungswettlauf mit den USA eintreten. Die Bundesregierung sollte deshalb
- Peking zu einem intensiven Dialog mit allen offiziellen Nuklearwaffenstaaten ermuntern, in dem Umfang und Motive der chinesischen Nuklearpolitik transparent gemacht werden,
- die chinesische Führung davon überzeugen, dass die Teilnahme an internationalen Rüstungskontrollinitiativen auch für China von Vorteil ist, und
- auch die USA dazu aufrufen, bei ihren Reaktionen auf den nuklearen Ausbau Chinas Besonnenheit und Zurückhaltung zu wahren.
Chinas Abschreckungspolitik basierte bislang auf zwei Prinzipien: so wenig Nuklearwaffen wie nötig zu besitzen und diese nur im Falle eines Nuklearangriffs auf das eigene Land einzusetzen. Allerdings rüstet das Land seit einigen Jahren nuklear deutlich auf, was im Westen Besorgnis hervorruft. China beschwichtigt, es halte unverändert am Erstschlagverzicht und an der Abschreckung mit begrenzten Mitteln fest. Doch das Land verfügt heute bereits über technische Möglichkeiten, die über einen nuklearen Zweitschlag hinausgehen. Ein ungewollter atomarer Rüstungswettlauf mit den USA könnte die Folge sein.
CHINA RÜSTET AUF
China ist seit 1964 Atommacht. Anders als die weiteren vier offiziellen Nuklearwaffenstaaten USA, Russland, Frankreich und Großbritannien verfolgt das Land seither eine „No-First-Use“-Politik. Sie beinhaltet das Versprechen, die eigenen Atomwaffen zu keiner Zeit und unter keinen Umständen zuerst einzusetzen. Auch auf den Einsatz gegen Nichtnuklearwaffenstaaten hat China eigenen Angaben zufolge verzichtet. Schließlich soll Abschreckung mit einer minimalen Anzahl an Atomwaffen erfolgen. Im Sinne dieser Doktrin besaß China im Vergleich zu den USA und Russland noch bis 2010 mit etwa 200 Atomsprengköpfen ein sehr begrenztes Atomwaffenarsenal.
Seither hat China seine nuklearen und konventionellen Fähigkeiten stark ausgebaut. Es hat neue und leistungsfähigere Trägersysteme unterschiedlicher Reichweite für die gesamte nukleare Triade entwickelt: Es wurden neue landgestützte ballistische Raketen im Mittelstreckenbereich eingeführt, die sowohl konventionell als auch nuklear bestückbar sind. China verfügt nun auch über mobil einsetzbare Langstreckenraketen, U-Boot-gestützte Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen sowie modernisierte Luft-Boden-Raketen.
Einige dieser Waffen stärken Chinas Zweitschlagfähigkeit, andere könnten einen begrenzten Nukleareinsatz ermöglichen.
„IM WESTEN LÖST CHINAS NUKLEARE AUFRÜSTUNG ERHEBLICHE BESORGNIS AUS."
Inzwischen wird die Zahl der chinesischen Sprengköpfe auf etwa 440 bis 500 geschätzt.1 Damit hat sich ihre Menge seit 2010 etwa verdoppelt. In der weltweiten Rangliste der Atommächte steht China nun hinter Russland und den USA auf dem dritten Platz. 2021 wurde bekannt, dass China zudem 300 neue Silos für Interkontinentalraketen baut. Ein weiterer Aufwuchs an Sprengköpfen ist daher wahrscheinlich. Einige US-amerikanische Schätzungen gehen von 700 bis 1.500 Sprengköpfen aus, die China bis 2035 entwickeln könnte.2
DER WESTEN IST BEUNRUHIGT
Im Westen löst Chinas nukleare Aufrüstung erhebliche Besorgnis aus und nährt Spekulationen über Pekings Ziele und Motive. Die Sorge ist groß, Peking könnte vom Prinzip der Abschreckung mit einer begrenzten Zahl von Atomwaffen abrücken. Als Beweis wird unter anderem ins Feld geführt, dass China nunmehr Sprengköpfe zeitweise in erhöhter Einsatzbereitschaft hält. Möglicherweise will Peking aber auch nur seine Zweitschlagfähigkeit absichern. Damit bliebe die bisherige Nuklearstrategie unverändert.
Die neuen Aufrüstungsdynamiken stehen sicher auch im Zusammenhang mit den geopolitischen Rivalitäten zwischen China und den USA im asiatischen Raum sowie Chinas wachsenden Großmachtansprüchen. Damit bergen sie die Gefahr eines ungewollten nuklearen Rüstungswettlaufs mit Washington. Denn auch, wenn Peking bei seinem traditionellen Verzicht auf einen Erstschlag bleibt, könnte eine potenzielle militärische Auseinandersetzung um Taiwan China dazu veranlassen, seine Doktrin zu überdenken. Möglich ist auch, dass China durch den Ausbau seines Arsenals einen nuklearen Schutz anstrebt, um im Ernstfall konventionell gegen Taiwan vorgehen zu können.
Ein atomarer Rüstungswettlauf könnte auch allein durch technischen Fortschritt ausgelöst werden. Neuartige Hyperschallraketen und präzisere Waffensysteme im Kurz- und Mittelstreckenbereich eröffnen China militärische Optionen, auch jenseits eines nuklearen Zweitschlags mit Interkontinentalraketen. Die USA und ihre Verbündeten in der Region könnten ihrerseits diese Waffen als Bedrohung für Kriegsschiffe und Militäreinrichtungen, aber auch für die zivile Handelsschifffahrt und damit die Lieferkettensicherheit ansehen.
CHINAS ANTWORT: BESCHWICHTIGUNG, RECHTFERTIGUNG, VERZICHTSRHETORIK
China versucht regelmäßig in internationalen Foren den Westen davon zu überzeugen, dass es auch weiterhin an seiner bisherigen Nukleardoktrin festhält. Allerdings weigert sich Peking bis heute, die genaue Anzahl seiner Systeme offen zu legen – vorgeblich, um für einen gegnerischen Erstschlag weniger verwundbar zu sein. Gleichzeitig hat die chinesische Führung nie offiziell definiert, was seine Form der Minimalabschreckung konkret bedeutet. Mehrdeutigkeit und Unschärfe werden so bewusst in Kauf genommen.
Seinen nuklearen Ausbau verteidigt China unter anderem mit Verweis auf US-amerikanische Rüstungsprogramme, die aus Pekinger Sicht die Zweitschlagfähigkeit des Landes untergraben. Hierzu haben unter anderem Programme wie „Prompt Global Strike“ beigetragen. Das Anfang der 2000er Jahre lancierte globale Raketenprogramm der USA sollte jedes Ziel binnen einer Stunde treffen können. Aber auch die von den USA unterstützten Raketenabwehrsysteme Südkoreas und Japans haben Chinas Bedrohungswahrnehmung verändert. Peking befürchtet, dass deren Radare den USA tiefere Einblicke in Chinas Fähigkeiten ermöglichen.
„PEKING SOLLTE UMFANG UND ZIELE SEINER AUFRÜSTUNG TRANSPARENTER KOMMUNIZIEREN.“
Zugleich rechtfertigt das Land die fehlende Transparenz bei seiner Nuklearpolitik, indem es auf die im Vergleich zu den USA und Russland noch immer viel geringere Anzahl an Sprengköpfen und strategischen Trägersystemen verweist. Umso offensiver lanciert Peking regelmäßig Initiativen, die insbesondere die fünf offiziellen Nuklearstaaten (P5) zu einem Erstschlagverzicht nach chinesischem Vorbild bewegen sollen. In der Tat könnte ein erklärter Erstschlagverzicht, z. B. der USA und Russlands, in Krisenzeiten entspannend und damit stabilisierend auf die internationale Sicherheit wirken.
Auch der innerchinesische Diskurs gibt wenig Aufschluss über die Hintergründe der aktuellen chinesischen Nuklearpolitik. Hier mischen sich Bedrohungsszenarien, Aufrüstungsideen und nukleare Zurückhaltung. Während die meisten chinesischen Militärexperten Chinas Abschreckung für glaubwürdig halten, appellieren einzelne öffentlich, den Übergang zur Erstschlagfähigkeit zu prüfen. 2020 wurde in einem Zeitungsartikel die weitere rasche Aufrüstung auf bis zu 1.000 Nuklearsprengköpfe gefordert.3 Die chinesische Regierung hat solche Forderungen und Zahlen allerdings nie offiziell bestätigt.
MEHR DIALOG UND TRANSPARENZ
Um einem ungewollten nuklearen Rüstungswettlauf mit den USA vorzubeugen, wäre China gut beraten, die westlichen Befürchtungen ernsthaft zu entkräften. Peking sollte Umfang und Ziele seiner Aufrüstung transparenter kommunizieren. Deutschland sollte China und die anderen Atommächte zu einem entsprechenden Dialog ermutigen und auf eine stärkere Beteiligung Pekings an einschlägigen Rüstungskontrollinitiativen, etwa am Haager Verhaltenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen (HCoC), drängen.
In einem solchen Rahmen könnten auch die chinesischen Vorschläge zu einem Erstschlagverzicht aller P5-Staaten aufgegriffen und ernsthaft geprüft werden. Auch die Gefahren, die sich aus dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz und anderen neuen Technologien bei der nuklearen Befehlsgewalt ergeben, sollten zur Sprache kommen.
Schließlich sollte die Bundesregierung gegenüber den USA unterstreichen, dass Besonnenheit im Umgang mit dem chinesischen Nuklearprogramm besser ist als den Blick auf Worst-Case-Szenarien zu verengen.
RÜSTUNGSKONTROLLE MUSS FEMINISTISCH SEIN
Eine zeitgemäße Rüstungskontrollpolitik braucht feministische Perspektiven, weil sie helfen, Abrüstung und Rüstungskontrolle gerechter und inklusiver zu gestalten. Die Bundesregierung hat dies als Ziel formuliert, nun muss die konkrete Umsetzung folgen. Auch kleine Schritte können helfen, den simplen Pragmatismus in der Außenpolitik zu überwinden, Widersprüche aufzulösen und zu einem echten Wandel hin zu einer friedlicheren Welt beizutragen.
RÜSTUNGSWETTLAUF VERHINDERN HEISST FRIEDEN SICHERN
Ein atomarer Rüstungswettlauf, sei es mit China oder anderen Staaten, wird eher durch Überreaktionen als durch Zurückhaltung in Gang gesetzt. Besonnenheit ist auch in Anbetracht der nuklearen Aufrüstung Chinas das Gebot einer friedensfördernden Sicherheitspolitik.