Der Washingtoner Gipfel: Was zum 75. Jubiläum der NATO auf dem Spiel steht

IFSH-Kurzanalyse von Dr. Tobias Fella

Dr. Tobias Fella (c) IFSH

Die NATO hat in der vergangenen Woche die Feierlichkeiten zu ihrem 75. Geburtstag eingeleitet. Im Juli 2024 kommen die Mitgliedstaaten in Washington zu ihrem Jubiläumsgipfel zusammen. Die zentralen Themen von damals zu Beginn des Kalten Krieges ähneln den heutigen: Abschreckung und Verteidigung.
Für die Verbündeten wird es vor allem darum gehen, ein Bild der Geschlossenheit, Leistungsfähigkeit und Relevanz zu vermitteln. Hierdurch soll nicht nur ein Signal an Moskau gesendet werden, sondern auch eine Botschaft an die Politik und Bevölkerung der Vereinigten Staaten, dass sich Investitionen in die Allianz lohnen. Die Möglichkeit einer zweiten Trump-Regierung ist dafür ebenso ein Grund wie ein parteiübergreifender Konsens in Washington, dass China die größte Herausforderung für den Status als Weltmacht darstellt und daher das Engagement in Europa nicht zu Lasten des Augenmerks auf China gehen darf. 

Umfangreiche Agenda für den Jubiläumsgipfel im Juli

Auch daher werden die Amerikaner:innen die Europäer:innen auf dem NATO-Gipfel zur Lastenteilung anmahnen. Das Ziel, dass die Mitgliedsstaaten zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für das Militär ausgeben sollen, wird als wichtige Richtschnur dienen. Zudem werden die Verbündeten nach Wegen suchen, ihre schleppende Munitionsproduktion zu erhöhen und Verteidigungssektoren zu stärken – nicht zuletzt, um die eigene Abschreckung und Durchhaltefähigkeit zu verbessern.

Die Ukraine wird das schwierigste Gipfelthema sein. Zwar ist eine Einladung zum NATO-Beitritt während des Gipfels in Washington wenig wahrscheinlich. Doch sind Diskussionen darüber denkbar, welche Kriterien für eine formale Einladung erfüllt sein müssten, etwa weitere Reformen der ukrainischen Governance und die Umstände eines möglichen Waffenstillstands. Eine Option, die Unterstützung der Ukraine unterhalb der Mitgliedschaft zu verstetigen, kommt von NATO-Generalsekretär Stoltenberg. Danach sollen Waffenlieferungen und Ausbildungsaktivitäten für die ukrainischen Streitkräfte unter dem NATO-Dach koordiniert werden. Bisher wurde die militärische Unterstützung für Kiew federführend von Washington im Rammstein-Format abgestimmt.
Das von Stoltenberg vorgeschlagene neue Format soll auch als Rückversicherung bei einer Wiederkehr Trumps ins Weiße Haus fungieren, mit der eine Reduzierung oder ein Stopp der US-Hilfe für die Ukraine einhergehen könnte. Jedoch würde es nicht nur Vorteile bedeuten. So gehören der Rammstein-Gruppe auch Nicht-NATO-Mitglieder wie Kenia oder Tunesien an. Dadurch läuft ihre Zusammensetzung der russischen Erzählung entgegen, dass nur der „kollektive Westen“ auf ukrainischer Seite stehe, während der Rest der Welt offenes oder leise Verständnis für Moskau zeige. Sollte ein neues NATO-Format zustande kommen, muss es solche globalpolitischen Dynamiken im Blick behalten.

Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine

Die NATO als Organisation hat die Lieferung letaler Waffen an Kiew bisher vermieden, um dem Eindruck einer direkten Konfrontation mit Russland entgegenzuwirken. Stattdessen haben einzelne NATO-Staaten Waffen geliefert. Doch könnte sich eine Änderung anbahnen, auch, weil nicht auszuschließen ist, dass die russischen Streitkräfte im Verlauf des Jahres ukrainische Linien durchbrechen. Insofern könnten sich die Allianz oder einzelne Mitgliedstaaten veranlasst sehen, höhere Risiken in Kauf zu nehmen, um dieses Szenario zu verhindern oder einzuhegen. In diesem Zuge könnte eine gerechtere Verteilung von Risiken, etwa bei Waffenlieferungen an die Ukraine, zum Thema werden.

Weiter sind Versuche vorstellbar, die Russland-NATO-Grundakte von 1997 unter Verweis auf die veränderte sicherheitspolitische Lage nun auch offiziell zu Grabe zu tragen. In der Grundakte hatte sich das Bündnis unter anderem verpflichtet, auf die dauerhafte Stationierung zusätzlicher substanzieller Kampftruppen und Nuklearwaffen in den neuen Mitgliedstaaten zu verzichten. Ihre Aufkündigung böte der NATO die Chance, größere Verbände an der militärisch exponierten Ostflanke zu stationieren und – so die Logik der Befürworter:innen dieses Schritts – die Abschreckung zu stärken. Im Vorfeld dieses Schritts könnten jedoch Differenzen zwischen den NATO-Mitgliedern über den russischen Bedrohungsgrad für das Allianzgebiet auftreten.

Ähnliches könnte geschehen, sollten sich die Verbündeten darauf einigen, dass die NATO zukünftig einen – beispielsweise jährlichen – Russland-Bericht produziert, der die Herausforderungen für das westliche Verteidigungsbündnis durch die Russischen Föderation ausbuchstabiert. Sollte dieser neben dem militärischen Potenzial auch die Intentionen des Kremls integrieren, könnten sich Risse in der Allianz auftun. Andererseits könnte er auch eine politische Bindekraft entfalten, die Ausschläge der NATO-Staaten in die eine oder andere Richtung eindämmt. Insofern gilt es auch hier unbeabsichtigte Folgen zu kalkulieren.

Wichtige Personalia und die weitere strategische Ausrichtung

Schließlich ist die Vorstellung eines neuen NATO-Generalsekretärs oder einer Generalsekretärin möglich. Favorit für die Nachfolge Stoltenbergs ist der Niederländer Mark Rutte, dem ein guter Draht zu Donald Trump nachgesagt wird. Ebenfalls dürfte eine bessere Kooperation der Verbündeten im Cyberspace, sowie beim Umgang mit hybriden Bedrohungen, neuen Technologien und der Volksrepublik China nicht zu kurz kommen. Ein größerer Fokus auf China könnte auch im Interesse der Biden-Administration liegen, der es dadurch erleichtert würde, ihren Einsatz für die NATO und Ukraine innenpolitisch zu rechtfertigen.

Kurzum: Die Liste der Gipfelthemen ist lang. Sie zeigt, dass sich die NATO auf eine Zeit der Instabilität ausrichtet, in der es nicht so sehr um die Auflösung von Konfrontation gehen wird, sondern um ihre Beherrschung. Das Bündnis wird zum einen gefordert sein, seine innere Kohäsion zu wahren und innere Machtgewichte auszutarieren. Zum anderen sollte es Lehren des Kalten Kriegs berücksichtigen. Dazu zählt, dass Abschreckung komplex ist und von Interpretationen der Gegenseite abhängt. Defensive Maßnahmen können als offensive (miss-)verstanden werden und Dynamiken entfachen, in denen die Kontrolle entgleitet. Auch deshalb sind Rüstungskontrolle, Risikoreduktion und Dialog gerade unter Bedingungen von Rivalität so wichtig. Sie sind kein Zugeständnis an den Gegner, sondern unabdingbarer Teil der Staatskunst – und im Atomzeitalter überlebenswichtig.


Dr. Tobias Fella ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFSH. Er leitet im Berliner Büro des Instituts das trilaterale Forschungs- und Transferprojekt Challenges to Deep Cuts, das vom Auswärtigen Amt gefördert wird.