Fünfzig Jahre Schlussakte von Helsinki: Heute noch relevant?

IFSH-Kurzanalyse von Dr. habil. Cornelius Friesendorf

Hauptakteure in Helsinki waren unter anderem der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Leonid Breschnew und der britische Premierminister James Harold Wilson. (c) dpa Picture Alliance | Vladimir Musaelyan, Valentin Sob

In diesem Jahr jährt sich die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki zum fünfzigsten Mal. Angesichts von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und des Risikos eines militärischen Konflikts zwischen Russland und der NATO liegt es nahe, in diesem historischen Dokument Orientierung für den Umgang mit Moskau zu suchen. Doch obwohl die Schlussakte und ihre Prinzipien während des Kalten Krieges eine zentrale Rolle spielten, können Vergleiche mit der Vergangenheit in die Irre führen.

Am 1. August 1975 unterzeichneten Staats- und Regierungschefs die Schlussakte im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1973 begann. Im Zentrum stand ein Kompromiss: Die westlichen Staaten erkannten die bestehende territoriale Ordnung Europas an, während die Sowjetunion Zugeständnisse bei den Menschenrechten machte.

Indem der sogenannte Helsinki-Prozess den Eisernen Vorhang durchlässiger machte und kommunistische Regierungen dem Druck von Dissidenten aussetzte, trug er wesentlich zum Ende des Kalten Krieges bei. Die zehn Prinzipien der Schlussakte – darunter die Unverletzlichkeit der Grenzen, die bereits in der UN-Charta von 1945 verankert ist – besitzen nach wie vor normative Bedeutung. Allerdings gilt es, drei  Trugschlüsse zu vermeiden.

Kooperative Sicherheit?

Erstens sollte die Schlussakte nicht als Aufruf für eine Wiederaufnahme kooperativer Sicherheit mit Russland missverstanden werden. Zwar wurde kooperative Sicherheit in den 1990er Jahren zu einem Leitprinzip der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Nachfolgerin der KSZE. Das Ziel war, Abschreckung durch eine Sicherheitsgemeinschaft zu ersetzen. Die Schlussakte selbst jedoch war zurückhaltender angelegt: Ihr Anliegen war es, das Risiko militärischer Eskalation zu mindern, indem Abschreckung durch Entspannungspolitik ergänzt wurde. Der Revisionismus des Kreml stellt einen fundamentalen Bruch mit der Politik sowohl der 1990er Jahre als auch von 1975 dar. Während Breschnew darauf abzielte, den Status quo in Europa zu sichern, will Putin diesen gewaltsam ändern, was kooperative Sicherheit unmöglich macht.  Zugleich erschwert dieser Revisionismus auch Abkommen zur Vermeidung einer ungewollten Eskalation, obwohl dafür selbst im Krieg ein gewisser Raum verbleibt.

Ein neuer Vertrag?

Zweitens bietet die Tatsache, dass der Helsinki-Prozess auf die sowjetisch geführte Invasion der Tschechoslowakei folgte, kaum Orientierung für die heutige Lage. Moskau hat deutlich gemacht, dass es nur dann zu einem umfassenden Abkommen bereit ist, wenn Russland eine Einflusssphäre in der Ukraine und eine Pufferzone innerhalb des NATO-Gebiets erhält – wie die russischen Vertragsentwürfe von 2021 zeigen.

Russlands Aggression ist dabei nicht allein Resultat eines Sicherheitsdilemmas, also der Wahrnehmung, durch die NATO bedroht zu sein. Zwar könnte Rüstungskontrolle zur Entschärfung dieser Wahrnehmung beitragen, doch die Motive des Kremls reichen tiefer. Neben dem Erhalt des autoritären Regimes strebt die russische Führung nach Anerkennung als Großmacht. Diese toxische Mischung macht jeglichen Versuch, inhärente Widersprüche zwischen KSZE/OSZE-Prinzipien aufzulösen, hochriskant. So würde Moskau darauf bestehen, das Prinzip der unteilbaren Sicherheit – dem zufolge kein Staat seine Sicherheit auf Kosten eines anderen erhöhen soll – über das Recht jedes Staates auf freie Bündniswahl zu stellen.

Innenpolitik ist Außenpolitik?

Drittens ist die Schlussakte nur bedingt geeignet, um russische Autokratie zu kritisieren. Zwar bekräftigte sie die Bedeutung der Menschenrechte, doch blieb der Begriff der Demokratie außen vor – jeglicher Verweis auf den Regimetyp wäre für die Staaten des Warschauer Pakts im Jahr 1975 unannehmbar gewesen. Erst mit der Charta von Paris 1990 bekannten sich alle Teilnehmerstaaten zur Demokratie. 

Auch ist das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik komplex. Demokratien verhalten sich oft aggressiv gegenüber autoritären Staaten. Autokratien sind insbesondere im Falle personalisierter Herrschaft und revisionistischer Ideologie – beide Merkmale finden sich im heutigen Russland – kriegsbereiter.

Hinzu kommt, dass nicht nur Russland, sondern auch andere autoritäre Teilnehmerstaaten der OSZE, etwa in Zentralasien, Forderungen nach Demokratisierung ablehnen. Wer Russland isolieren und gleichzeitig die OSZE als inklusive Organisation erhalten will, muss diese Staaten im Boot halten.

Selbst in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen Russlands gegen die eigene Bevölkerung ist die Schlussakte nur eingeschränkt nützlich. Zwar war es bahnbrechend, die Achtung der Menschenrechte als Voraussetzung für zwischenstaatlichen Frieden zu formulieren – eine Grundidee der umfassenden Sicherheit, wie sie später von der OSZE ausgearbeitet wurde. Doch bleiben die menschenrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen von KSZE und OSZE weniger umfassend und völkerrechtlich schwächer verankert als kodifizierte Regeln der Vereinten Nationen.

Dennoch wichtig

Auch wenn die Schlussakte von Helsinki keine perfekte Analogie für den Umgang mit dem heutigen Russland ist, bleibt sie normativ bedeutend. Sie erinnert daran, dass Abschreckung allein nicht ausreicht, dass Repression nach Innen und Aggression nach außen (auf komplizierte Art) zusammenhängen, und dass internationale Beziehungen auf Regeln beruhen müssen. Selbst wenn die Bekräftigung umstrittener Normen das Verhalten von Normbrechern wie Russland kaum verändert, hilft eine solche Bekräftigung, Normen zu schützen.

Dr. habil. Cornelius Friesendorf ist Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE) am IFSH.