„Damit die OSZE den Ukrainekrieg überlebt, müssen die Teilnehmerstaaten bereit sein, gemeinsam zu entscheiden, ohne Russland auf Kosten der territorialen Integrität der Ukraine zu rehabilitieren.” (Cornelius Friesendorf, Stefan Wolff)
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist eines der letzten Foren, in denen die Vertreter:innen Russlands und westlicher Staaten regelmäßig zusammenkommen. Die OSZE vermittelt in Territorialkonflikten, etwa in Berg-Karabach und in Transnistrien. Sie betreibt Feldmissionen, die auf dem Balkan, in Osteuropa und Zentralasien Reformen vorantreiben. Auch hilft die OSZE dabei, Menschenrechte, Pressefreiheit und nationale Minderheiten zu schützen. Darüber hinaus hat die Organisation in besseren Zeiten wesentlich zur konventionellen Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung beigetragen und sie hilft Staaten, gemeinsam gegen Probleme wie Terrorismus und Korruption vorzugehen.
Der Ukrainekrieg stellt insbesondere westliche Demokratien nun aber vor ein Dilemma. Einerseits müssen alle 57 Teilnehmerstaaten Entscheidungen im Einvernehmen treffen. Sollte etwa westliche Staaten zusammen mit der Ukraine dieses Konsensprinzip verletzen, würde Moskau mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der OSZE verkünden. Andererseits könnten Konsensentscheidungen als Übergang zur Tagesordnung und somit als Rehabilitation Russlands auf Kosten der territorialen Integrität der Ukraine interpretiert werden.
Schon bald werden Staaten mit diesem Dilemma umgehen müssen. Bis Jahresende müssten sie einen Haushalt für 2022 beschließen, ohne den weder das Sekretariat noch Einrichtungen wie das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte effektiv arbeiten können. In der zweiten Jahreshälfte müssen zudem die Mandate und Budgets vieler Feldmissionen verlängert werden. Darüber hinaus müssen sich die Teilnehmerstaaten auf einen Vorsitzstaat für 2024 einigen, nachdem Russland sich gegen Estland ausgesprochen hatte.
Ende Juni läuft das Mandat des OSZE-Projektkoordinators in der Ukraine aus, seine Verlängerung ist daher dringend. Russland hatte Ende März die Fortsetzung einer anderen Ukraine-Feldoperation abgelehnt, der Sonderbeobachtungsmission (SMM). Es wäre tragisch, wenn die OSZE in der Ukraine schon bald keine Feldpräsenz mehr hätte – angesichts der vielen aktuellen und zukünftigen Probleme dort und der Expertise der OSZE beim Konfliktmanagement.
Ebenso ungewiss ist, ob sich die Teilnehmerstaaten darauf einigen können, in diesem Jahr wieder die größte Menschenrechtskonferenz in Europa abzuhalten. Das Human Dimension Implementation Meeting konnte bereits in den vergangenen beiden Jahren nicht stattfinden – 2020 pandemiebedingt und 2021 wegen des russischen Widerstands. Sollte die Veranstaltung erneut ausfallen, wäre sie wohl Geschichte; viele Aktivist:innen hätten ein Forum weniger, um sich auszutauschen und der OSZE ihre Anliegen vorzutragen.
Alle diese Entscheidungen brauchen die Zustimmung Moskaus. Darüber hinaus müssen sie vorbereitet werden – insbesondere durch die Moderation Polens, das dieses Jahr den OSZE-Vorsitz innehat. Polen hatte schon lange vor einer aggressiven russischen Expansionspolitik gewarnt und unterstützt die Ukraine nun tatkräftig. Polnische Diplomat:innen stehen jetzt vor dem Dilemma, mit Russland Kompromisse ausloten zu müssen, da Polen als Vorsitzstaat die Zukunft der Organisation im Blick haben sollte.
Ein pragmatischer Umgang mit diesem Dilemma könnte bedeuten, dass Teilnehmerstaaten den russischen Angriffskrieg weiterhin auf das Schärfste verurteilen, aber bereit sind, gemeinsam mit Russland über zentrale Fragen zum Weiterbetrieb der Organisation – insbesondere den Haushalt – zu entscheiden. So könnte die OSZE erhalten werden. Dies ist im vitalen Interesse einer europäischen Sicherheitsordnung, in der Dialog und Multilateralismus Abschreckung und Verteidigung ergänzen – insbesondere für die Zeit nach einem Regierungswechsel in Russland.
Dr. habil. Cornelius Friesendorf ist Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE) am IFSH). Professor Dr. Stefan Wolff lehrt Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik an der Universität Birmingham, Großbritannien.