In vielen Gesellschaften tragen Einzelpersonen, informelle Gruppen oder selbstorganisierte Vereinigungen zum Friedensaufbau von unten bei, z.B. in Alltagskonflikten wie interethnischen Auseinandersetzungen, Streitigkeiten um Ressourcen oder angesichts von lokalen ökologischen Gefährdungen wie z.B. einem Staudammbau. Dies gilt auch für den Kaukasus oder Zentralasien, Regionen, die in Europa bisher überwiegend aus staats- und sicherheitsorientierten Perspektiven betrachtet werden. In multiethnischen Gemeinden in Georgien unterstützen sich z.B. Angehörige unterschiedlicher Ethnien in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, obwohl ihre Staaten, wie im Fall von Armenien und Aserbaidschan wiederholt Krieg um das umstrittene Territorium von Nagorny Karabach führten. Ähnlich wie im Kaukasus haben auch in kirgisischen Gemeinden gegenseitige Hilfe und gemeinsame Arbeit im landwirtschaftlichen Bereich eine lange Tradition, z.B. bei Ressourcenkonflikten um Wasser oder Grenzkonflikten um Weideflächen. Örtliche Geistliche, Älteste, aber auch angesehene ältere Frauen ergreifen hier entsprechend gewohnheitsrechtlichen Traditionen oft die Initiative zur Streitschlichtung und versuchen den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Ohne solche Praktiken der Konfliktbewältigung zu romantisieren, verweisen zahlreiche Regionalwissenschaftler:innen auf die Bedeutung solcher lokaler Friedensstrategien.
In ihren Forschungen zur Konfliktverhütung und zum Peacebuilding durch internationale Interventionen hat die Friedensforschung in den vergangenen Jahren durchaus auch die notwendige Einbeziehung lokaler Akteure betont. Es fehlt ihr aber weiterhin an vertieftem Wissen und dem Verständnis für Weltanschauungen, Alltagspraktiken und Institutionen vor Ort. All zu oft scheut sie davor zurück, nicht-westliche Sichtweisen, Erfahrungen und Handlungen der Menschen vor Ort besser zu verstehen und mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam an Konfliktlösungen zu forschen.
Das neue IFSH-Forschungsprojekt Local Peace in Central Eurasia: Studying Peace Formation in Customary and Patronal Contexts widmet sich den Möglichkeiten und Grenzen des Friedensaufbaus von unten im Kaukasus und Zentralasien. An je zwei ländlichen und städtischen Standorten in Georgien und Kirgisistan wird es lokale Friedensstrategien in unterschiedlichen Konfliktkonstellationen untersuchen. Das Team unter der Leitung von Dr. Anna Kreikemeyer verfolgt dabei einen interregionalen kollaborativen Ansatz. Es integriert zwei Nachwuchswissenschaftler:innen, die lokale Sprachen sprechen und vor Ort ethnografische Feldforschung durchführen können. Durch Elemente partizipatorischer Forschung wird möglichst auch die lokale Bevölkerung an den Forschungen beteiligt. Die Ergebnisse sollen zum einen lokalen und politikorientierten Praktiker:innen (Lehrer:innen, Mitarbeiter:innen von Nichtregierungsorganisationen o.a.) zugänglich gemacht werden. Zum anderen planen die Forschenden mehrere akademische Aufsätze zur Handlungsfähigkeit lokaler Akteure beim Friedensaufbau. So versucht das Projekt anhaltende Ungleichgewichte bei der Wissensproduktion zum Thema Frieden zwischen Europa, dem Kaukasus und Zentraleurasien zu überwinden und internationale Debatten über die Vielfalt beim Friedensaufbau anzuregen.