Weder Beitritt, noch Ablehnung: Deutschland und der Atomwaffenverbotsvertrag

Dr. Oliver Meier

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Am 22. Januar 2021 trat der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Kraft. Das neue Abkommen verbietet seinen bisher 54 Vertragsstaaten nicht nur den Atomwaffenbesitz, sondern auch die Mitwirkung an und die Unterstützung von Atomwaffenprogrammen und nuklearen Allianzen. Der AVV ähnelt den bereits bestehenden Verboten biologischer und chemischer Waffen. Die AVV-Befürworter*innen argumentieren, dass der Vertrag somit eine wichtige völkerrechtliche Lücke schließe, weil es nun umfassende vertragliche Verbote aller Massenvernichtungswaffen gibt.

Der AVV ist der erste moderne multilaterale Abrüstungsvertrag, den die Bundesrepublik Deutschland rundherum ablehnt und dessen Aushandlung sie ferngeblieben ist. Mit dieser Verweigerungshaltung vergibt die Bundesregierung Gelegenheiten, die vom AVV ausgehenden positiven Abrüstungsimpulse für eine atomwaffenfreie Welt zu nutzen. Auch wenn ein Beitritt gegenwärtig nicht sinnvoll ist, sollte Deutschland auf eine proaktive Politik des konstruktiven Engagements mit dem AVV umschwenken und so abrüstungspolitische Handlungsspielräume gewinnen.

Ein Beitritt bleibt unrealistisch

Einige Gründe für die Ablehnung des Abkommens durch die Bundesregierung sind nachvollziehbar. Ein Beitritt zum AVV wäre momentan politisch mit hohen Kosten verbunden und würde Deutschland in der NATO isolieren. Die Allianz lehnt, insbesondere auch auf Druck der Atomwaffenstaaten Frankreich, Großbritannien und USA den Atomwaffenverbotsvertrag in Gänze ab.

Die NATO bezeichnet sich als „nukleare Allianz“. Auch die Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe der NATO ist mit der AVV-Mitgliedschaft unvereinbar. Denn der Vertrag verbietet seinen Mitgliedern nicht nur den Besitz oder die Lagerung von Kernwaffen, sondern auch „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen“ – also die Mitwirkung an der nuklearen Abschreckung.

Weniger stichhaltig sind jene Argumente der Bundesregierung gegen den Verbotsvertrag, die auf inhärente Schwächen des neuen Abkommens zielen oder dessen Unvereinbarkeit mit dem bestehenden Nichtverbreitungsvertrag hinweisen. Die Kritiker*innen messen den AVV dabei gelegentlich mit den Maßstäben traditioneller Rüstungskontrollabkommen wie dem New START-Abkommen über die Begrenzung strategischer Atomwaffen, etwa in Bezug auf dessen definitorische Klarheit oder die Überprüfbarkeit der Vertragsbestimmungen.

Der Vertrag zielt auf die Ächtung von Atomwaffen

Der AVV aber ist kein klassischer Rüstungskontrollvertrag, wie ihn Atomwaffenbesitzer abschließen würden mit dem Ziel, das Wettrüsten einzuhegen. Fast alle der 122 Nichtatomwaffenstaaten, die 2017 den Verbotsvertrag in der UN-Generalversammlung ausgehandelt haben, lehnen die aus ihrer Sicht selbstgefälligen Argumente der Atomwaffenbesitzer für die Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung ab. Es war eine bewusste Entscheidung der AVV-Unterstützer, „ihren“ Vertrag in die Tradition humanitärer Rüstungskontrolle zu setzen. Damit knüpfen sie an die vertraglichen Verbote von Antipersonenminen oder von Streumunition an. Diese Verträge wurden ebenfalls gegen den erbitterten Widerstand mächtiger Besitzerstaaten ausgehandelt wurden und entfalten vor allem über die Ächtung inhumaner Waffen politischen Druck.

Vorrangiges Ziel des AVV ist es also, die Sichtweise auf die nukleare Abschreckung zu verändern. Der Vertrag hebt vor allem die horrenden menschlichen und ökologischen Folgen von Atomwaffenprogrammen und möglicher Atomwaffeneinsätze hervor. Die Unterstützer argumentieren zudem, dass ein Atomwaffeneinsatz den Anforderungen des humanitären Kriegsvölkerrechts etwa in Bezug auf die gebotene Unterscheidung zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen oder die Vermeidung unnötigen Leids der Opfer nicht gerecht werden kann. Sie legen so die Widersprüche der nuklearen Abschreckung offen.

Mehr Mitsprache

Im Ergebnis reden Abschreckungsbefürworter und AVV-Unterstützer oft trefflich und manchmal auch bewusst aneinander vorbei. Die einen betonen die vermeintlich sicherheitsfördernde Wirkung der nuklearen Abschreckung, die anderen heben nukleare Risiken und Folgekosten hervor.

Dieses Auseinanderdriften der Diskussionen um die Rolle von Atomwaffen ist aus deutscher Sicht besorgniserregend. Es könnte dazu beitragen, dass der AVV dem wichtigeren nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) langfristig Konkurrenz macht. Der NVV aber bildet seit mittlerweile 50 Jahren den wichtigsten und unverzichtbaren Rahmen, um Probleme der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen, sowie der Kontrolle der friedlichen Nutzung der Kernenergie zusammen zu verhandeln.

Der NVV hat mit 191 Vertragsstaaten fast universelle Gültigkeit, nur die Atomwaffenbesitzer Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan stehen außerhalb. Von einer solchen Reichweite ist der AVV weit entfernt, auch wenn eine Staatenmehrheit im Juli 2017 für den AVV gestimmt hat und rund ein Drittel der Weltbevölkerung in jenen Ländern lebt, die den Vertrag unterzeichnet haben. Aber die Gegner des Atomwaffenverbotsvertrages sind politisch und militärisch mächtig: die neun Atomwaffenbesitzer und ihre rund 40 Verbündeten vereinen auf sich rund 85% der globalen Verteidigungsausgaben (AVV-Vertragsparteien: 2%) und 96% der weltweiten Rüstungsexporte (AVV-Vertragsparteien 0,6%). Kein Wunder also, dass der Verbotsvertrag auch als Aufstand der Schwachen gegen die Starken beschrieben wird.

Gerade für Deutschland, dessen Sicherheit davon abhängt, Diskussionen über die Rolle von Atomwaffen mitzubestimmen, ist es wichtig, dieser drohenden Fragmentierung der nuklearen Ordnung entgegenzuwirken. Dafür aber muss man mit allen Seiten am Tisch sitzen und sowohl in der NATO mit nuklearen Verbündeten als auch mit den Abrüstungsbefürwortern und AVV-Unterstützern reden können. Wer argumentiert, dass Deutschland sich an der nuklearen Teilhabe der NATO beteiligt, weil sie Möglichkeiten der Mitsprache bietet, sollte sich konstruktiven Diskussionen um den AVV nicht verweigern.

Zwei Schritte eines konstruktiven Engagements

Es ist also zentrale Herausforderung für Deutschland, unterhalb der Schwelle eines AVV-Beitritts Möglichkeiten des konstruktiven Engagements zu schaffen. Zwei Schritte sind insbesondere geeignet, die positiven Impulse des AVV aufzunehmen und so abrüstungspolitische Spielräume zu gewinnen.

Erstens sollte Deutschland zusagen, an der ersten Konferenz der AVV-Vertragsstaaten als Beobachter teilzunehmen. Berlin könnte dann konstruktive Vorschläge einbringen, um aus deutscher Sicht problematische Aspekte des Vertrags zu minimieren. Dies betrifft etwa klare Stellungnahmen hinsichtlich des Vorrangs des NVV und bessere Verifikationsmaßnahmen. Der AVV sieht ausdrücklich vor, dass Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen sowie außerhalb des Vertrags stehende Staaten als Beobachter eingeladen werden. Letztere müssen allerdings auch gemäß dem UN-Beitragsschlüssel die Kosten des Treffens mittragen. Nach Lage der Dinge, wäre Deutschland dann der mit Abstand größte Beitragszahler der Konferenz, die der UN-Generalsekretär innerhalb eines Jahres einberufen muss. Eine Teilnahme würde die eigenartige Situation zu Folge haben, dass Berlin die Konferenz eines Vertrages finanziert, dem man letztendlich nicht beitreten will. Um dieses Problem abzumindern, könnte Berlin sich intensiv dafür einsetzen, dass die 16 Teilnehmer*innen der Stockholm-Initiative gemeinsam an dem Staatentreffen als Beobachter*innen teilnehmen. Diese von Deutschland und Schweden ins Leben gerufene Initiative hat unter anderem den Zweck, Brücken zwischen AVV-Unterstützern und Kritikern zu schlagen. In ihr wirken politische (und finanzielle!) Schwergewichte wie etwa Japan mit.

Zweitens sollte Deutschland in der NATO für mehr Transparenz bei den Nuklearwaffendoktrinen werben. Befürworter und Gegner des Atomwaffenverbotsvertrages sollten unter anderem die interessante Frage diskutierten, ob und wie die Anforderungen des humanitären Völkerrechts in nukleare Einsatzplanungen Eingang finden. Dabei geht es nicht darum, streng geheime Nuklearwaffenpläne öffentlich zu machen. Ziel wäre vielmehr, dass die Atomwaffenbesitzer jene Verfahren schildern, auf deren Grundlage sie die Völkerrechtskonformität nuklearer Einsatzplanungen gewährleistet wollen. Es ist beispielsweise bekannt, dass das US-Verteidigungsministerium Völkerrechtler in die Atomwaffeneinsatzplanung einbezieht und Juristen den amerikanischen Präsidenten beraten, bevor er den Einsatz von Atomwaffen freigibt. Vermutlich haben andere Atomwaffenstaaten ähnliche Verfahren. Deutschland selbst ist über die Nukleare Planungsgruppe in die Planung für – und letztlich auch über die Entscheidung über – Atomwaffeneinsätze eingebunden. Auch deshalb wäre es wichtig, darzulegen wie das Völkerrecht in Nuklearwaffenplanung der Allianz berücksichtigt wird. Eine solche Diskussion könnte auch dazu beitragen, eine Begrenzung der nuklearen Einsatzszenarien zu befördern. Der neue US-Präsident Joe Biden etwa ist dafür offen, Nuklearwaffen nur noch zur Abschreckung nuklearer Bedrohungen zu nutzen.

In einem Punkt sind sich Kritiker*innen und Befürworter*innen des Atomwaffenverbotsvertrags trotz aller politischen Differenzen einig: Wir brauchen in Deutschland eine intensivere Debatte über die Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitspolitik. Norwegen, Schweden und die Schweiz haben Kommissionen ins Leben gerufen, die in der Diskussion über den AVV einen Beitrag leisten sollten. Ein inklusiver und ergebnisoffener Austausch von Argumenten könnte auch bei uns dazu beitragen, den Problemen beim Umgang mit Atomwaffen politisch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und Entscheidungen über die Mitwirkung an Abschreckung und Abrüstung demokratischer zu gestalten.

Den Autor Dr. Oliver Meier können Sie unter meier@remove-this.ifsh.de kontaktieren.

Zum Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrag hat das IFSH auch eine Pressemitteilung herausgegeben.

Was passieren würde, wenn über Hamburg eine Atombombe explodieren würde, hat das IFSH anhand eines animierten Erklärvideos dargestellt.