„Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts“ – IFSH-Zitate mit internationaler Karriere

Dr. Margret Johannsen

Seit 50 Jahren begleiten und kommentieren die IFSH-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler das sicherheitspolitische Weltgeschehen. Einige ihrer Zitate, Formulierungen und Redewendungen schafften es auf die große internationale politische Bühne. So zum Beispiel das Diktum vom Recht des Stärkeren und der Stärke des Rechts, das mit wenigen Worten einen komplexen Sachverhalt und ein Dilemma in der internationalen Politik auf den Punkt bringt. Die Formulierung stammt aus der Feder von Dr. Margret Johannsen. Die langjährige IFSH-Wissenschaftlerin blickt auf die Entstehung und Bedeutung der Formulierung zurück:

„Das Erschrecken über den Krieg am Golf sollte Anlass sein, den Vereinten Nationen Instrumente in die Hand zu geben, die dem Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts entgegensetzen. Die Völkergemeinschaft darf künftig nicht mehr unter dem Zwang stehen, das Recht, militärische Gewalt zur Revision einer gewaltsamen Völkerrechtsverletzung auszuüben, delegieren zu müssen.“ Diese Lehre zieht ein Autorenkollektiv des IFSH (Egon Bahr, Matthias Bartke, Hans-Georg Ehrhart, Thorsten Görrissen, Margret Johannsen, Roland Kaestner, Dieter S. Lutz, Erwin Müller, Reinhard Mutz, Götz Neuneck, Claudia Schmid) in den Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik vom 11. März 1991 aus dem Zweiten Golfkrieg (2.8.1990-5.3.1991).

In einer Vorfassung des Papiers hatte Roland Kaestner, gelernter Fallschirmjäger und Military Fellow am IFSH, Anstoß daran geübt, dass gegen Saddam Husseins Irak keine Truppen unter UN-Oberbefehl Kuwait befreit hatten, sondern eine sogenannte „Koalition der Willigen“ unter US-Oberbefehl. Der Grund: Die UNO verfügte über keine eigenen Truppen. Ich hatte die Fassung redigiert und die Formulierung des Kollegen zugespitzt: „dem Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts entgegensetzen“ – der Kollege war einverstanden.

Der damalige Außenminister Kinkel benutzte den Begriff vor der UN-Vollversammlung

„Die Stärke des Rechts anstelle des Rechts des Stärkeren“ machte zunächst im IFSH Karriere. Als erster benutzte Reinhard Mutz die Formel in einem seiner Manuskripte, dann der Direktor. Mit dem Ritterschlag von Egon Bahr begann ihr Höhenflug. Er führte sie bis in die Vereinten Nationen. In seiner Rede vor der 47. UN-Vollversammlung am 23. September 1992 prangert der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel den Vernichtungs- und Vertreibungskrieg in Bosnien-Herzegowina, aber auch die Kriege in Somalia, Sudan, Liberia, Afghanistan, Georgien und Berg-Karabach an und folgerte: „Das Ziel, nationalistische Machtpolitik, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen durch internationale und supranationale Zusammenarbeit zu überwinden, bleibt unverändert gültig. Auch Rückschläge dürfen uns von diesem richtigen Weg zur Herrschaft des Rechts und der Achtung der Menschenwürde nicht abbringen. Eine vernünftige Alternative hierzu gibt es nicht, es sei denn, man wollte zurück zu dem Recht des Stärkeren.“

Auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde er zur griffigen Redewendung

Und weiter ging´s von New York bis nach Peking. Vor Studenten und Professoren an der chinesischen Akademie der Wissenschaften mahnte Angela Merkel am 12. Juni 2016 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Nanjing in Peking den Ausbau des Rechtsstaates in China an. „Kern aller Rechtstaatlichkeit ist, dass die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren“, sagte Merkel. Recht dürfe nicht als Werkzeug der Macht benutzt werden, sondern müsse unabhängig von der Politik für alle gelten.


Binnen fünf Jahren hatte die Formel „Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts“ nicht nur einen weiten Weg zurückgelegt. Sie hatte dabei auch eine beträchtliche Umdeutung erfahren. War es 1991 noch darum gegangen, die UNO zu einem genuinen System kollektiver Sicherheit mit eigenen Truppen zu machen, beklagte der deutsche Außenminister im Jahr darauf das Kriegsgeschehen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zerfall der Sowjetunion und mahnte internationale Zusammenarbeit an. Von kollektiver Sicherheit war nicht mehr die Rede.

Fundamental hingegen war vier Jahre später die Umdeutung durch die Bundeskanzlerin. Da ging es nicht um internationale Politik, sondern um die innere Verfasstheit Chinas. Vor Studenten und Professoren an der chinesischen Akademie der Wissenschaften mahnte die Kanzlerin den Ausbau des Rechtsstaates in China an. Bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Nanjing in Peking setzte sie sich nachdrücklich dafür ein, dass regierungsunabhängige Organisationen trotz eines ab 1997 in China geltenden Gesetzes zu ihrer Kontrolle auch künftig frei arbeiten können. Sie tat das allerdings nicht in ihrer Eigenschaft als Staatschefin. Auf Fotos der Zeremonie trägt sie einen Doktorhut. Insofern ist die Formel „Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts“ an ihren Ursprung zurückgekehrt: an ein wissenschaftliches Institut.“

Dr. Margret Johannsen (c) IFSH