Die NATO wird noch dieses Jahr auf die russische Verletzung des INF-Vertrags reagieren. Neben diplomatischen Initiativen werden sehr wahrscheinlich auch militärische Gegenmaßnahmen beschlossen werden. Ein neuer Nachrüstungsbeschluss könnte die Rückkehr der Mittelstreckenraketen nach Europa bedeuten.
- Die Bundesregierung sollte zunächst eindringlich auf die Veröffentlichung der amerikanischen Geheimdiensterkenntnisse drängen.
- Statt neuer landgestützter Mittelstreckenraketen sollte sich Deutschland für alternative militärische Gegenmaßnahmen wie konventionelle
see- und luftgestützte Marschflugkörper stark machen. - Die NATO sollte geschlossen erklären, nicht zuerst neue Mittelstreckenraketen an Land zu stationieren. Im Gegenzug könnte Russland zustimmen, seine Raketen hinter das Ural-Gebirge zu verlegen.
Europa droht die Rückkehr der gefährlichsten Waffen des Kalten Kriegs. Seit einiger Zeit entwickelt Russland einen verbotenen Marschflugkörper im Mittelstreckenbereich. Damit verletzt es den Vertrag zur Eliminierung dieser Waffen, den Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty (INF). Die Regierung Trump hat darauf wiederum mit der Aufkündigung des INF-Vertrags reagiert. Als Folge daraus könnte die NATO vor einer neuen Stationierungsdebatte über Mittelstreckenraketen stehen. Für Deutschland wird es Zeit, sich in dieser Debatte zu positionieren.
Als Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 den INF-Vertrag unterzeichneten, endete eines der gefährlichsten Kapitel des Kalten Kriegs. INF-Systeme – also ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Flugreichweite von 500 bis 5.500 Kilometern – wirkten vor allem auf Grund ihrer extrem kurzen Vorwarnzeiten so destabilisierend. Im Zweifelsfall hatten die Militärs und Politiker beider Blöcke nur wenige Minuten, um über Leben und Tod zu entscheiden.
Diese Waffen könnten nun zurückkehren. Seit 2014 beschuldigen die USA die russische Vertragsseite, einen verbotenen, landgestützten Marschflugkörper – NATO-Bezeichnung: SSC-8 – getestet und entwickelt zu haben. Nach westlichen Geheimdiensterkenntnissen besitzt Russland inzwischen mindestens 64 SSC-8. Einige davon sind scheinbar im westlichen Teil des Landes stationiert. Moskau bestreitet die Vorwürfe und bezichtigt wiederum die amerikanische Seite des Vertragsbruchs. Laut russischer Vertreter könne das US-Militär europäische Basen zur Raketenabwehr, beispielsweise in Rumänien, mit offensiven Marschflugkörpern gegen Russland ausrüsten. Mehrfache Gespräche zwischen den jeweiligen Unterhändlern blieben ohne Ergebnis.
„Die Auseinandersetzungen um neue amerikanische Mittelstreckenraketen könnten die NATO auf Jahre paralysieren.“
Das liegt auch daran, dass beide Seiten wohl kein richtiges Interesse am INF-Vertrag mehr haben. Der Grund dafür liegt in der weitreichenden Verbreitung von Marschflugkörpern mittlerer Reichweite in den vergangenen 30 Jahren. Heute gilt vielen Militärs diese Waffengattung als unentbehrlich. China, Indien, Südkorea, Pakistan oder Iran, um nur einige Länder zu nennen, haben im Mittelstreckenbereich stark aufgerüstet. Lediglich Russland, den anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und den USA sind landgestützte Mittelstreckenraketen auf Grund des INF-Vertrags untersagt. Dabei ist es übrigens egal, ob diese Raketen nuklear oder nichtnuklear, also konventionell, bestückt sind. Was zählt, ist die Rakete, ihre Reichweite und die Stationierung an Land.
Zum 2. August 2019 werden die USA nun formell aus dem INF-Vertrag aussteigen. Während Deutschland bis zum Schluss erfolglos auf eine mögliche Einigung der beiden Seiten hingearbeitet hatte, zeigte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gleichzeitig vom russischen Vertragsverstoß überzeugt. „Wir wissen, dass Russland die Vorgaben [des INF-] Vertrages seit längerer Zeit nicht einhält,“ erklärte sie am 20. November 2018. Problematisch ist dabei, dass der Weltöffentlichkeit bis jetzt keine Beweise russischen Fehlverhaltens vorgelegt wurden. Der Kreml nutzt diese Lücke im westlichen Narrativ geschickt aus und stellt sich als Opfer des amerikanischen INF-Vertragsausstiegs dar. Nur wenige Tage nach Donald Trumps Verlautbarung erklärte auch Russlands Präsident Wladimir Putin, den Vertrag zu verlassen. Bereits vorher hatte der Generalstabschef der russischen Streitkräfte, Waleri Gerassimow, indirekt den europäischen NATO-Verbündeten gedroht. „Das Ziel eines russischen Gegenschlags wären nicht die USA, sondern die Länder, wo [zukünftige] INF-Raketen stationiert wären“, so Russlands oberster Militär.
Somit rückt Europa in den Fokus. Bis jetzt verfügen die USA noch nicht über neue INF-Systeme. Ein 2017 beschlossenes Forschungsprogramm liefert jedoch bereits erste Ergebnisse. Laut Vertretern des Pentagons forschen die USA an der Entwicklung eines neuen, konventionellen, landgestützten Marschflugkörpers sowie an einer ballistischen Rakete. Der Marschflugkörper könnte bereits Anfang 2021 zur Stationierung bereitstehen. Auch wenn amerikanische und NATO-Vertreter noch beschwichtigen – es droht damit die Rückkehr der Raketen nach Europa. Denn welchen Sinn würde es für Washington machen, INF-Raketen zu entwickeln, sie dann aber nicht zu stationieren?
Rüstung und Rüstungskontrolle
Deutschland und Europa stehen also vor enormen Herausforderungen. Zunächst sollte die Bundesregierung eindringlich auf die Veröffentlichung der amerikanischen Geheimdiensterkenntnisse drängen. Sollte Deutschland spätestens 2020 wieder mit einer Nachrüstungsdebatte konfrontiert sein, muss die Öffentlichkeit ausreichend informiert sein. Ein Thema von solch vitalem Sicherheitsinteresse für die Bundesrepublik darf nicht nur in abhörsicheren Räumen diskutiert werden.
„Die NATO könnte geschlossen erklären, nicht zuerst neue INF-Raketen an Land zu stationieren.“
Derartige Transparenz würde es der Bundesregierung auch leichter machen, die Öffentlichkeit auf schwere Entscheidungen vorzubereiten. Denn bei der NATO in Brüssel werden bereits militärische Gegenmaßnahmen zur russischen SSC-8 diskutiert. Auch hier muss sich Deutschland klar positionieren, denn erste Entscheidungen könnten noch dieses Jahr getroffen werden. Oberstes Ziel sollte es sein, an Land stationierte Mittelstreckenraketen von Europa fernzuhalten. Europa braucht keinen zweiten Raketenwettlauf dieser destabilisierenden Erstschlagswaffen. Die möglichen innenpolitischen Auseinandersetzungen um eine erneute Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen an Land könnten die NATO auf Jahre paralysieren.
Stattdessen sollten alternative militärische Gegenmittel diskutiert werden. So könnten die USA ihre Raketenabwehr in Europa punktuell weiter ausbauen. Eine solche Alternative wäre jedoch sehr teuer und zur Verteidigung gegen tieffliegende Marschflugkörper nur bedingt erfolgversprechend. Eine bessere Option wäre die zusätzliche Verlegung konventioneller see- und luftgestützter Marschflugkörper auf amerikanischen Bombern, Schiffen und U-Booten. Auch sind noch nicht alle rüstungskontrollpolitischen Optionen erschöpft. So könnte die NATO geschlossen erklären, nicht zuerst neue INF-Raketen an Land zu stationieren. Russland würde sich im Gegenzug bereit erklären, die SSC-8 hinter das Ural-Gebirge zu verlegen. Nationale Geheimdiensterkenntnisse sollten ausreichen, um die Einhaltung zu überprüfen; sie hatten ebenfalls ausgereicht, den russischen Verstoß und die spätere Stationierung neuer Raketenverbände zu bemerken.
Zusammengenommen böte sich der NATO also durchaus ein Maßnahmenpaket, welches, wie bereits Ende der Siebzigerjahre, militärische Gegenmaßnahmen mit einem Rüstungskontrollangebot koppelt. Doch Vorsicht: im Unterschied zu damals haben sich heute entscheidende politische Parameter verschoben. Amerikas Sicherheitsestablishment sieht den Kurs der eigenen Regierung deutlich skeptisch. Ab 2021 könnte eine neue Regierung im Weißen Haus auch einen neuen Kurs beim Thema INF verfolgen. Europa sollte sich also durchaus auf die ein oder andere Volte aus Washington einstellen. Gleichzeitig ist nicht klar, ob Amerika überhaupt noch ein Interesse an Rüstungskontrolle mit Russland hat. Dasselbe gilt übrigens auch umgekehrt. Hinzu kommt, dass Europa tief gespalten ist. Manche Länder, wie Deutschland, wünschen sich eine eher zurückhaltende Reaktion beim Thema INF. Andere, vor allem in Osteuropa, favorisieren eine starke militärische Antwort. Selbst bilaterale Stationierungsdeals unter Umgehung der offiziellen NATO-Gremien, beispielsweise zwischen Warschau und Washington, sollte man für die Zukunft nicht völlig ausschließen.
Die Rückkehr der Raketen könnte schon bald wieder grimmige Realität werden. Der große Durchbruch von 1987, als Reagan und Gorbatschow den vielleicht bedeutendsten Abrüstungsvertrag des Kalten Kriegs unterzeichneten, wäre dann endgültig Geschichte.