Cybergefahren, Klimawandel, Corona-Pandemie – viele Menschen erleben die Gegenwart als krisenhaft. Die Europäische Union reagiert hierauf, indem sie verstärkt ihre Rolle als Sicherheitsgarantin betont. Mit dem neuen Leitbild der „Sicherheitsunion“ verspricht sie ihren Bürger*innen Schutz in unsicheren Zeiten. Doch je mehr sich die EU damit befasst, ihre Bevölkerung vor künftigen Krisen zu schützen und den Status quo abzusichern, desto eher verliert sie aus dem Blick die Zukunft aktiv zu gestalten und Probleme global anzugehen. Für eine bessere Balance sollten die EU und die Bundesregierung:

  • gesellschaftliche Resilienz solidarisch und transnational denken,
  • gewonnene Autonomie in den Dienst der ökologischen und digitalen Transformation stellen, und
  • demokratische Werte auch in den Mitgliedstaaten verteidigen.

Die europäische Integration wird seit jeher mit verschiedenen identitätsstiftenden Leitbildern unterfüttert, so etwa mit dem „Friedensprojekt Europa“ oder der Wohlstandsförderung im gemeinsamen „Binnenmarkt“. In den vergangenen Jahren ist ein neues Leitbild hinzugekommen – das der europäischen „Sicherheitsunion“. Die EU verspricht ihren Bürger*innen damit einen umfassenden Schutz in Zeiten weit verbreiteter Ungewissheit. Voraussetzung dafür sollen resiliente europäische Gesellschaften sowie ein strategisch autonomes Europa sein. Die EU möchte auf diese Weise Europas Bürger*innen und Infrastrukturen für eine krisenhafte Zukunft stark machen und sie vor unvorhersehbaren Entwicklungen schützen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass darüber die aktive Gestaltung der Zukunft vernachlässigt wird. Die EU sollte daher Resilienz und Autonomie solidarisch und transnational denken und beides nutzen, um die anstehenden Herausforderungen der ökologischen und digitalen Transformation gezielt anzugehen.

Bemühungen um eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik sind nicht neu. Die aktuellen Bestrebungen gehen allerdings über bisherige Ansätze hinaus. Es geht nun weniger darum, gegen konkrete Bedrohungen der inneren oder äußeren Sicherheit, wie etwa den Terrorismus, mit einzelnen Maßnahmen vorzugehen. Der Anspruch ist vielmehr, die europäischen Bürger*innen umfassend zu schützen und Europa auf ganz unterschiedliche Szenarien vorzubereiten und so krisenfest zu machen. Vor allem die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie abhängig und verwundbar die EU ist, und hat Forderungen nach mehr und breiterem Schutz Auftrieb gegeben. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommission ihr Ziel bekräftigt, eine „Sicherheitsunion“ zu errichten. Sie soll Europa vor sehr unterschiedlichen, teils auch miteinander verbundenen und sich gegenseitig verstärkenden Risiken schützen. Diese umfassen so vielgestaltige Herausforderungen wie Cyberangriffe, Extremwetterereignisse, Versorgungsengpässe oder politische Manipulation von Wahlkämpfen. Alle Politikbereiche sollen im Rahmen eines „Sicherheitsökosystems“ auf dieses Ziel hin ausgerichtet werden.

„RESILIENZ SOLLTE ZUM SOLIDARISCHEN UMGANG MIT KRISEN BEFÄHIGEN.“

Gesellschaftliche Resilienz und strategische Autonomie als Kernaufgaben

Die EU-Kommission sieht zwei Kernaufgaben, die zu meistern sind, damit das Schutzversprechen eingelöst werden kann: Zum einen bedarf es resilienter, d.h. widerstandsfähiger Institutionen und Gesellschaften, die in der Lage sind, Krisenfolgen zu bewältigen. Zum anderen muss Europa mehr strategische Autonomie entwickeln, d.h. es muss handlungsfähiger werden und sich in die Lage versetzen, selbst den Schutz seiner Bürger*innen sicherstellen zu können.

Resilienz und strategische Autonomie sind nicht per se etwas Schlechtes. Resilienz betont die Notwendigkeit für Gesellschaften, sich auf künftige Herausforderungen und Krisen vorzubereiten. Die EU reagiert damit auf gegenwärtige Entwicklungen und gesellschaftliche Erwartungen. Auch strategische Autonomie ist grundsätzlich wichtig, um im Ernstfall nicht auf fragile Lieferketten und nur eingeschränkt verlässliche Partner angewiesen zu sein.

Allerdings sind beide Kernaufgaben im Konzept der Sicherheitsunion inhaltlich sehr eng gefasst. Bei Resilienz geht es hauptsächlich um krisenfeste Infrastrukturen, weniger um beständige soziale Strukturen. So soll der Katastrophenschutz durch länderübergreifende Kooperation gestärkt und die IT-Sicherheit durch technische Maßnahmen erhöht werden. Auch strategische Autonomie wird maßgeblich im Kontext von Lieferketten und kritischen Infrastrukturen und damit in Kategorien von Funktionstüchtigkeit und Produktivität gedacht. Die Kommission möchte, dass Europa bei der Produktion und beim Handel mit bestimmten Gütern, etwa im Gesundheitssektor, unabhängiger wird.

Durch die Betonung dieser Ideen werden die Akzente in der europäischen Integration grundlegend verschoben. Im Gegensatz zu früheren Leitbildern liegt der Schwerpunkt weniger darauf, die Zukunft positiv zu gestalten und gemeinsame Werte zu verwirklichen. Vielmehr geht es darum, den Status quo in einem unsicheren Umfeld zu sichern und sich auf Krisen vorzubereiten, die der EU unabwendbar erscheinen. Der neue Fokus richtet sich zunehmend nach innen und führt zu einem teilweisen Rückzug aus globalen Verbindungen, die die EU für potenziell gefährlich hält.

Das Streben nach Resilienz und strategischer Autonomie muss deshalb jedoch nicht gänzlich aufgegeben werden; es kommt vielmehr darauf an, wie diese Entwürfe ausgefüllt und umgesetzt werden. Das Leitbild der „Sicherheitsunion“ sollte daher breiter angelegt sein und weitere Aufgaben integrieren.

RESILIENZ SOLIDARISCH UND TRANSNATIONAL DENKEN

Erstens sollte gesellschaftliche Resilienz zum solidarischen Umgang mit Krisen befähigen. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die vorhandenen Ressourcen zur Krisenbewältigung innerhalb der Gesellschaften ungleich verteilt und die Menschen unterschiedlich betroffen sind. Eine europäische Strategie für gesellschaftliche Resilienz muss daher die Bedürfnisse marginalisierter und vulnerabler Gruppen berücksichtigen. Dies verlangt etwa, dass nicht nur die Produktion medizinischer Güter nach Europa verlagert wird, sondern auch, dass mehr Menschen besseren Zugang zum Gesundheitssystem oder zu zentralen Sozialleistungen erhalten. Eine Diskussion darüber, ob und wie die „Sicherheitsunion“ mit einer gemeinsamen „Sozialunion“ zusammenhängt, findet bisher aber nicht statt, da sie eine Debatte über Kompetenz- und Umverteilungsfragen innerhalb der EU zur Folge hätte, die nicht ohne Kontroversen und Konflikte bliebe.

„Das Streben nach strategischer Autonomie sollte kein Selbstzweck sein.“

Resilienz muss darüber hinaus in ihren globalen und transnationalen Bezügen gedacht werden, anstatt sich einfach von diesen abzukoppeln. Lieferketten müssen nicht nur stabil, sondern auch nachhaltig und fair sein. Das geplante europäische Lieferkettengesetz muss Unternehmen, die im Abbau und Handel kritischer Rohstoffe aus dem Global Süden tätig sind, verbindliche Sorgfalts- und Rechenschaftspflichten auferlegen. In einer globalisierten Welt hängt die Resilienz Europas zudem von den Entwicklungen in anderen Regionen ab. Schon aus purem Eigeninteresse sollte sich die EU daher stärker für eine gerechtere globale Verteilung von Corona-Impfstoffen einsetzen.

Das Streben nach Autonomie zur Zukunftsgestaltung nutzen

Zweitens sollte das Streben nach strategischer Autonomie kein Selbstzweck sein und sich nicht in einer Industriestrategie erschöpfen. Mehr Autonomie bei Produktion und Handel sollte vor allem auch für die Gestaltung der ökologischen und digitalen Transformation genutzt werden. „Digitale Souveränität“ und Unabhängigkeit von amerikanischen Tech-Giganten erlauben es der EU beispielsweise, eigene und klare demokratische Vorgaben für das Netz zu formulieren. So könnte sie den aktuellen Entwurf für ein Gesetz über digitale Dienste und den Aktionsplan für Demokratie nutzen, um Hass- und Desinformationskampagnen in sozialen Medien stärker zu regulieren und dabei die Meinungsfreiheit nicht übermäßig einzuschränken. Ein solcher Ansatz kann globalen Vorbildcharakter entfalten, muss dann aber auch konsequent, etwa über eine europäische Regulierungsbehörde, durchgesetzt werden.

DEMOKRATISCHE WERTE AUCH NACH INNEN VERTEIDIGEN

Drittens muss die EU Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch gegenüber ihren Mitgliedstaaten verteidigen. Die Sicherheitsunion bezieht sich explizit auf den Schutz liberaler und demokratischer Werte. Dieses Ziel wird unglaubwürdig und das Vertrauen zwischen den EU-Staaten leidet, wenn die EU oder einzelne Mitglieder sich selbst nicht an diesen Werten orientieren. So stoppten die Niederlande 2020 die Auslieferung von Tatverdächtigen nach Polen, da man nach der dortigen Justizreform an der Rechtsstaatlichkeit des Landes zweifelte. Um weiteren Schaden von Demokratie und Rechtsstaat im EU-Raum abzuwenden, muss die EU deutlicher auf ihre Sanktionsmöglichkeiten hinweisen, gleichzeitig aber auch in Austausch und Überzeugungsarbeit investieren, damit das gegenseitige Vertrauen in rechtsstaatliche Institutionen erhalten bleibt.

Wenn die EU die „Sicherheitsunion“ in diesem Sinne fortentwickelt, dann kann das Streben nach Resilienz und strategischer Autonomie durchaus dazu beitragen, dass Europa künftige Herausforderungen meistert und die demokratische und aktive Gestaltung der anstehenden Transformationsprozesse gelingt.