Anlassbezogen veröffentlichen unsere Wissenschaftler:innen IFSH-Kurzanalysen zu tagesaktuellen Themen. Die Kurzanalyse richtet sich speziell an ein nicht-wissenschaftliches Publikum, das schnell und trotzdem profund informiert werden möchte.

Der russische Angriff auf die Ukraine: Kurzanalysen des IFSH

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Dieser Krieg zerstört Menschenleben, Familien und Lebensgrundlagen überall in der Ukraine. Dieser Krieg zerstört auch das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauen in Verträge wie die Schlussakte von Helsinki und in die langjährige gemeinsame Arbeit an Abrüstung, Ausgleich und gewaltfreier Koexistenz.

„Bei der Reaktion auf den russischen Angriff geht es nicht nur um territoriale Bündnisverteidigung, sondern auch um Demokratieverteidigung.”

„Die russischen Eliten sind von der Entscheidung zur Invasion überrascht worden. Einige haben sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen. Einen direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungen des Kremls wird ihre Kritik jedoch vorerst nicht haben.”

Der Krieg in der Ukraine gibt auch Anlass, seine Wirkung und Bedeutung für die Demokratie und den innergesellschaftlichen Frieden in Deutschland zu thematisieren. Demokratie und Frieden hängen nicht nur von bestimmten Bedingungen im Inneren ab, vielmehr gehören auch demokratiestützende und den inneren Frieden fördernde äußere Bedingungen dazu. Die Entwicklung demokratischer Strukturen und Normen in Deutschland profitierte von einer relativ stabilen ‚Zone des Friedens‘ im Nachkriegseuropa, die sich auf ein dichtes Geflecht politischer und gesellschaftlicher Integration stützen konnte. Die russische Invasion in der Ukraine stellt auch einen Angriff auf diese Ordnung dar. In der Reaktion darauf geht es daher nicht nur um territoriale Bündnisverteidigung, sondern auch um Demokratieverteidigung. Stabile Demokratie und innergesellschaftlicher Frieden müssen immer wieder neu gesichert werden. Gerade in der jetzigen Krise müssen der öffentliche Diskurs und der konstruktive Konfliktaustrag als Kernelement der Demokratie nach Innen geschützt werden. Dies betrifft Gefahren der Desinformation oder sich ausbreitender Verschwörungserzählungen, die im Zeitalter grenzüberscheitender Vernetzung von (sozialen) Medien immer auch eine äußere und internationale Dimension haben. Es bedeutet aber auch, dass eine demokratische Gesellschaft gerade jetzt offene und kontroverse Diskussionen braucht, die verschiedene Meinungen zu den Folgen des Krieges in der Ukraine einbringen. Das ist keine westlich-liberale Dekadenz oder Machtvergessenheit, sondern Grundvoraussetzung demokratischer Politik.

Auch wenn sich die Hoffnung auf Demokratieförderung durch Einbindung im Fall Russlands letztendlich nicht bestätigt hat, ist auch der Blick hierhin aus demokratiepolitischer Sicht wichtig. In Zeiten der Verminderung oder sogar des Abbruchs von Verflechtungen bleiben zivile Wege der Demokratieförderung und -stützung in Russland von Bedeutung. Gerade hat ein autokratischer Staat mit einigen formal-demokratischen Elementen einen Angriffskrieg gegen eine demokratisch gewählte Regierung begonnen. Wahlen allein sind also kein Garant dafür, dass ein Staat keinen Krieg gegen eine Demokratie führt. Es gehört mehr dazu: Funktionierende demokratische Kontrollen der Staatsorgane, eine plurale Medienlandschaft und eine lebendige Zivilgesellschaft. An all diesem fehlt es in Russland gegenwärtig. Alle Kontakte mit Russland, deren Grundlage ein gemeinsames Verständnis von Demokratie bilden und die diese Kontrollinstitutionen stärken können, sollten deshalb nicht nur nicht gekappt, sondern wo immer es möglich ist, ausgebaut werden. Auch dies schützt die Demokratie in Deutschland.

Nach einer dreitägigen Notstandssitzung verurteilte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution A/RES/ES-S/1 am 2. März 2022 den Angriff Russlands auf die Ukraine. Mit ihren Ja-Stimmen bekräftigten 141 Staaten so wichtige Pfeiler der internationalen Ordnung wie das Gewaltverbot und die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität. Sie forderten Russland auf, unverzüglich die Kampfhandlungen auf ukrainischem Staatsgebiet einzustellen und seine Streitkräfte abzuziehen.

Dass die Vollversammlung und nicht der Weltsicherheitsrat in diesem Konflikt aktiv wird, ermöglicht das sogenannte Uniting-for-Peace-Verfahren. Dabei handelt es sich um einen institutionellen Umweg, der sich in der UN-Praxis als Reaktion auf das in der VN-Charta verbriefte Vetorecht der ständigen Sicherheitsratsmitglieder herausgebildet hat. Ist, wie jetzt, der internationale Frieden bedroht und zugleich der Sicherheitsrat durch ein oder mehrere Vetos handlungsunfähig, kann die Generalversammlung zusammentreten, den Konflikt debattieren und Empfehlungen zur Konfliktlösung abgeben – so wie sie es diese Woche getan hat.

Doch was genau bedeutet dieser Schritt und welche weiteren Schritte können ihm folgen? Zunächst einmal hat sich die internationale Gemeinschaft mit der gestrigen Resolution klar hinter die Ukraine gestellt und zum Ausdruck gebracht, dass ein gelähmter VN-Sicherheitsrat sie nicht von der Verantwortung für den Weltfrieden entbindet. Nun ist zu hoffen, dass es nicht bei Verurteilungen und Appellen bleibt, sondern die Generalversammlung bereit sein wird, sich in Folgeresolutionen für konkrete Maßnahmen auszusprechen. 
Dass solche Maßnahmen militärischer Natur sein könnten, ist aufgrund des Eskalationsrisikos in diesem Konflikt unwahrscheinlich. Nicht-militärische Zwangsmaßnahmen, beispielsweise den Abbruch diplomatischer Beziehungen oder einheitliche ökonomische Sanktionen könnte die Generalversammlung jedoch sehr wohl empfehlen, um die Maßnahmen, die bereits von verschiedenen Seiten ergriffen worden sind, zu vereinheitlichen und ihnen eine multilaterale Legitimation zu verleihen.

Ergänzen sollte solche Zwangsmaßnahmen das friedenspolitische Instrumentarium, das den VN zur Verfügung steht. Darunter fallen Sondergesandte mit einem Vermittlungsauftrag sowie Blauhelmtruppen. Eine solche Friedensmission, ausgestattet etwa mit dem Mandat, die Zivilbevölkerung zu versorgen und zu schützen sowie humanitäre Korridore für Flucht und Hilfslieferungen abzusichern, wird dringend gebraucht.

Die Kriegserklärung des russischen Präsidenten am 24. Februar 2022 und der Umfang des von ihm als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Angriffs auf die Ukraine haben sowohl erfahrene russische Politikexperten als auch Insider überrascht. Innerhalb der erweiterten Machteliten, in der russischen Staatsduma und dem Föderationsrat, sowie in der Ministerialbürokratie und selbst unter Mitarbeitern der Präsidialadministration war man nach der Anerkennung der beiden sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donetsk am 21. Februar 2022 von einem begrenzten Militäreinsatz zur Eroberung des Donbass ausgegangen. Die Entscheidung zur Invasion ist demnach im allerengsten Kreis um Präsident Putin gefallen.

Viele russische Intellektuelle und Kulturschaffende haben sich bereits seit einigen Wochen öffentlich gegen einen bevorstehenden Krieg ausgesprochen. Eine Onlinepetition, die zum sofortigen Waffenstillstand aufruft, fand in kurzer Zeit die Unterstützung von mehr als einer Million Menschen. In einem offenen Brief an den Präsidenten verurteilten über tausend Studierende und Alumni des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) – der Kaderschmiede für russische Diplomaten – die jetzige Militäroperation.

Auch Vertreter der russischen Wirtschaftselite sehen die Invasion äußerst kritisch. Bisher haben sich jedoch nur wenige öffentlich geäußert. Dazu gehören der Gründer und Mitbesitzer der größten russischen Privatbank Alfa Bank, Mikhail Friedman, der Gründer der Tinkoff-Bank, Oleg Tinkow und Oleg Deripaska, Miteigentümer des zweitgrößten Aluminiumproduzenten der Welt. Alle drei haben sich für ein Ende des Krieges und den Beginn von Friedensverhandlungen ausgesprochen. Ein weiterer russischer Milliardär, Roman Abramowitsch, der als Eigentümer des englischen Fußballklubs Chelsea bekannt wurde, soll sich sogar direkt an der Vorbereitung von Gesprächen zur Konfliktbeilegung in Belarus beteiligt haben.

Mittlerweile haben sich selbst einige Abgeordnete beider Parlamentskammern zu Wort gemeldet und das russische Vorgehen kritisiert. Dennoch wird dieser Dissens voraussichtlich keinen unmittelbaren Einfluss auf die politischen Entscheidungen im Kreml haben. Diese werden ausschließlich von Präsident Putin und seinen engsten Vertrauten getroffen, zu denen unter anderem der russische Verteidigungsminister, Sergei Schoigu, und der Sekretär des Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, gehören. Ein Ende des Krieges aufgrund innenpolitischen Drucks oder durch ein Zerwürfnis der Eliten ist deshalb gegenwärtig sehr unwahrscheinlich.

Russlands Angriffskrieg in der Ukraine trifft in der russischen Gesellschaft weder auf viel Gegenliebe noch auf breitflächigen Widerstand – zumindest bislang. Zwar haben Wissenschaftler, Intellektuelle und Kulturschaffende Protestnoten veröffentlicht und in verschiedenen russischen Städten fanden Anti-Kriegs-Demonstrationen statt. Doch große Teile der Gesellschaft schrecken davor zurück, sich diesen Protesten anzuschließen. Sie scheuen die persönlichen Risiken, die mit öffentlicher Kritik am Kreml verbunden sind.

Denn das autoritäre Regime hat in den letzten Jahren viel dafür getan, gesellschaftlichen Protest zu unterbinden. Mit der Ermordung von Boris Nemzow 2015 und der Inhaftierung Alexey Navalnys 2021 wurde die Opposition ihrer stärksten Führungspersönlichkeiten beraubt. Seit Navalnys Festnahme haben keine größeren Straßenproteste in Russland mehr stattgefunden, denn die Beteiligung an politischen Demonstrationen steht unter Strafe. Geschwächt wurde die Zivilgesellschaft auch durch die zunehmenden Repressionen gegen einzelne Nichtregierungsorganisationen. Im Dezember 2021 wurde die bekannte russische Menschenrechtsorganisation Memorial unter Bezugnahme auf das „Ausländische Agenten“-Gesetz zwangsaufgelöst.

Im Konflikt mit der Ukraine intensivierte der Kreml in der Vergangenheit vor allem die mediale Indoktrination. Seit Jahren verbreiten die gleichgeschalteten staatlichen Medien das Narrativ vom „aggressiven“ Westen und einem „verbrecherischen“, „faschistischen“ und „illegitimen“ Regime in der Ukraine. Den Einmarsch in die Ukraine hat der Kreml als zeitlich wie räumlich begrenzte „militärische Spezialoperation“ bezeichnet. Dass dies aber nicht der Realität entspricht und das Ausmaß der militärischen Invasion viel größer ist, dringt auch bis zur russischen Gesellschaft durch.

Daher geht der Kreml nun noch schärfer gegen abweichende Darstellungen und Proteste vor. Unabhängige Medien wurden angewiesen, das Wort „Krieg“ aus ihrer Berichterstattung zu tilgen. Dem TV-Sender TV Rain und dem Radiosender Echo Moskvy wurde die weitere Ausstrahlung in Russland verboten, nachdem beide ihre unabhängige Position beibehalten hatten. Aktuell bereitet die Duma einen Gesetzentwurf vor, der die „Verbreitung von Desinformationen über die Aktionen der russischen Streitkräfte bei militärischen Operationen“ unter Strafe stellen soll. Gleichzeitig geht die Polizei hart und konsequent gegen die zunehmende Zahl von Demonstrationen vor. Nach einer Kriegswoche gab es in Russland bereits über 7.000 Festnahmen.

Ziviler Druck, der den Kreml zu einer Kursänderung im Krieg gegen die Ukraine bewegen würde, kann so kaum ausgeübt werden. Widerstand und Protest ganz zu unterbinden, wird aber auch nicht gelingen, vor allem nicht, wenn der Krieg noch länger anhält. Moskau manövriert sich nicht nur in eine äußere, sondern auch in eine innere Gewaltspirale hinein, an deren Ende ein weiterer Legitimitätsverlust steht.

Wir verurteilen den russischen Angriff auf die Ukraine aufs Schärfste. Dabei gilt jedoch: Eine prekäre Sicherheit Europas gegen Russland ist zwar mittelfristig denkbar; eine gerechte, stabile und inklusive Friedensordnung aber nicht.

Die Friedensforschung ist nun gefragt, zur Rückkehr zu und Rückbesinnung auf Frieden und Sicherheit in Europa beizutragen. Es wird darum gehen müssen, einen Reflexionsprozess über langerprobte friedenspolitische Ideen und Konzepte anzustoßen und dabei neuen Realitäten Rechnung zu tragen. Gleichzeitig müssen wir darauf hinarbeiten, den Handlungsraum für Politik auch jenseits militärischer Optionen auszuloten und hier Orientierung zu bieten. Erste Analysen aus dem IFSH bieten einen Einstieg in diese Debatten.

„Die Gefahr eines Einsatzes von Nuklearwaffen erscheint niedrig – sie ist aber real. In den kommenden Tagen und Wochen wird es deshalb darum gehen, Wege in eine mögliche nukleare Eskalation zu vermeiden. Praktische Mechanismen zur Deeskalierung sind möglich.”

„Die EU braucht mehr als Verteidigungspolitik, um ihren Kurs gegenüber Russland halten zu können. Sie steht vor einer entscheidenden Weichenstellung: Schafft sie es nicht, enger zusammenzuwachsen, droht ihr die weitere Desintegration.”

Regina Heller ist wissenschaftliche Referentin im Forschungsbereich Europäische Friedens- und Sicherheitsordnungen.
 

„Die Zeichen des zivilen Protests aus Russland sind mutig, denn der Kreml greift hart gegen alle durch, die sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprechen. Den Protest ganz zu unterbinden, wird aber nicht gelingen - vor allem nicht, wenn der Krieg noch länger anhält.”


Alexander Graef ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungs- und Transferprojekt Rüstungskontrolle und Neue Technologien.
 


Spätestens mit der Anordnung Wladimir Putins, die russischen Nuklearstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, hat der Krieg eine nukleare Dimension bekommen. Dabei hatte Russland noch Anfang dieses Jahres zusammen mit China, Frankreich, Großbritannien und den USA öffentlich erklärt, „dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen ist und (deshalb) niemals geführt werden darf“. Diese Bekräftigung steht im klaren Widerspruch zu Putins Drohungen. Die Gefahr eines Einsatzes von Nuklearwaffen erscheint noch immer niedrig – sie ist aber real. In den kommenden Tagen und Wochen wird es deshalb darum gehen, Wege in eine mögliche nukleare Eskalation zu vermeiden. Dabei muss zwischen taktischer und strategischer Handlungsebene unterschieden werden.

Auf taktischer Ebene ergeben sich Eskalationsrisiken aus der räumlichen Nähe von NATO- und russischen Truppen, jetzt wo ein Krieg an der Grenze zum Bündnisgebiet tobt. Um möglichen unbeabsichtigten militärischen Zwischenfällen zur See und in der Luft vorzubeugen, sollten die Seiten rasch praktische Mechanismen zur Risikominimierung vereinbaren. Diese sollten neben der Einhaltung professioneller Flugführung zu jeder Zeit und der Verwendung spezifischer Kommunikationsfrequenzen auch die Einrichtung einer bodengebundenen Kommunikationsstelle beinhalten. Besonders wichtig sind dabei ständig offene Gesprächskanäle zwischen russischen und NATO-Militärs, um im Zweifelsfall unbeabsichtigten Vorfällen vorzubeugen oder zu helfen, diese rasch aufzuklären.

Das NATO-Militär an der ukrainischen Grenze sollte wiederum haargenau darauf achten, bei der physischen Verbringung westlicher Waffenlieferungen oder bei einer möglichen zukünftigen Ausbildung ukrainischer Freiwilliger nicht auf ukrainisches Territorium vorzudringen und russischen Truppen einen Vorwand zur Eskalation zu geben. Deshalb müssen sich EU- und NATO-Staaten eng über die Form und die praktische Durchführung von Waffenlieferungen abstimmen. Nationale Alleingänge bei der militärischen Unterstützung der Ukraine müssen verhindert werden.

Auf strategischer Ebene wiederum ist es bereits jetzt enorm schwierig, den humanen Wunsch, weitere russische Gräueltaten zu verhindern, gegen die Risiken eines noch größeren Krieges, einschließlich der Möglichkeit eines nuklearen Einsatzes, abzuwägen. Ukrainische Rufe nach einer von der NATO zu erkämpfenden Flugverbotszone über der Ukraine sind deshalb zwar nachvollziehbar, sie verbieten sich jedoch aus NATO-Sicht angesichts des damit verbundenen erheblichen Eskalationspotenzials. Gleichzeitig steigt die Gefahr, dass Putin auch so zum Nukleareinsatz eskaliert je länger der Krieg dauert und je stärker der ökonomische Druck auf Russland wird.
Es ist deshalb dringend geboten, diplomatische Lösungen zur Deeskalation zu finden. Ein möglicher Ansatz könnte es sein, Putin für einen sofortigen Waffenstillstand und einen kompletten Rückzug die umgehende Aufhebung der Wirtschafts- und Finanzsanktionen in Aussicht zu stellen. Das Thema russischer Reparationen müsste zunächst hintangestellt werden. Gleichzeitig könnten die USA im Rüstungskontrollbereich flankierend wirken und ihr Angebot vom Dezember 2021, über Raketenabwehr und ein reziprokes INF-Regime zu sprechen, schnell in die Tat umsetzen. All dies müsste selbstverständlich im Einklang mit einer geschlossenen militärischen Rückversicherung der östlichen Bündnispartner stehen, die auf Jahre alternativlos ist. Noch ist es Zeit, einen noch größeren Krieg zu verhindern. Die Handlungsspielräume werden jedoch zusehends kleiner.

Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien.
 


Seit der russischen Annexion der Krim 2014 ist die Ukraine zu einer Art Experimentierfeld für russische Cyberoperationen gegen kritische Infrastrukturen geworden. 2015 und 2016 gab es Angriffe gegen ukrainische Stromnetze. 2017 setzen staatsnahe russische Hacker das Schadprogramm NotPetya gegen die IT-Systeme ukrainischer Ministerien, Banken und Flughäfen ein. Die unkontrollierte Verbreitung dieses Programms führte weltweit zu Milliardenschäden. Unmittelbar vor der russischen Invasion der Ukraine wurde dann eine sogenannte Wiper-Malware entdeckt, die Daten und Festplatten ukrainischer Banken und Regierungsbehörden zerstören kann.

Bislang wird das Kriegsgeschehen allerdings überwiegend durch Informationsoperationen in Social Media und weniger durch Cyberattacken bestimmt. Das könnte sich jedoch noch ändern. Einem Bericht zufolge wurden US-Präsident Biden Optionen für die Sabotage des russischen Vormarschs durch Cyberattacken auf Strom- und Schienennetze vorgelegt. Das Weiße Haus dementierte dies allerdings umgehend. Schon allein zu Spionagezwecken verschaffen sich Nachrichtendienste jedoch permanent Zugriffsmöglichkeiten auf die IT-Netze anderer Staaten. Insofern dürften solche Optionen grundsätzlich durchaus vorliegen.

Unsicherheit besteht auch über die Fähigkeiten und die Risikobereitschaft zahlreicher nichtstaatlicher und parastaatlicher Akteure, die sich mehr und mehr in den Konflikt einschalten. Am 26. Februar verkündete die ukrainische Regierung die Bildung einer IT-Freiwilligenarmee, deren Zielliste neben russischen Banken auch Energieunternehmen umfasst. Bereits im Januar hatten in Belarus sogenannte „Cyber-Partisanen“ die militärische Logistik der russischen Armee durch Attacken auf IT-Systeme der Eisenbahn gestört. Das nichtstaatliche Hackernetzwerk Anonymous behauptete am Wochenende bereits, in Kommunikationssysteme der russischen Armee sowie in ein Gasversorgungsunternehmen eingedrungen zu sein. Auf der anderen Seite verkündete die kriminelle Conti-Gruppe, jeden Angriff auf Russland mit Angriffen auf kritische Infrastrukturen westlicher Staaten zu vergelten.

Gerade die Rolle von professionellen Cyberkriminellen, die ihre Basis zum Teil in Russland haben, verdient besondere Beachtung. Mit Verschlüsselungsprogrammen (Ransomware) erpressten diese Gruppen in den letzten Monaten weltweit zunehmend Energie- und Transportunternehmen oder auch Krankenhäuser, offenbar toleriert oder gar unterstützt durch den russischen Staat. Nicht auszuschließen ist, dass der Kreml diesen Gruppen nun gänzlich freie Hand lässt, um politische Vergeltung beispielsweise für Wirtschaftssanktionen gegen NATO-Länder zu üben. Das setzt allerdings voraus, dass die russische Führung eine weitere Internationalisierung des Konflikts beabsichtigt, statt dies eher vermeiden zu wollen.

Mischa Hansel leitet den Forschungsschwerpunkt Internationale Cybersicherheit (ICS).
 

„Bislang gab es keine schweren Cyberattacken auf kritische Infrastrukturen in diesem Krieg. Das könnte sich aber noch ändern und schlimmstenfalls zur Eskalation zwischen Russland und NATO führen. Risiken entstehen außerdem durch die Einmischung von Cyberkriminellen.”


Die Europäische Union hat in beispielloser Geschwindigkeit und Schärfe auf den russischen Überfall der Ukraine reagiert. Sie hat ihr kollektives Gewicht in die Waagschale geworfen, um politischen und wirtschaftlichen Druck auf Putin auszuüben und um die Ukraine und ihre Bevölkerung zu unterstützen. Hierzu hat die EU nicht nur das größte Sanktionspaket in ihrer Geschichte verhängt, sondern liefert im Rahmen der ‚Europäischen Friedensfazilität‘ letale Ausrüstung und Material an die ukrainischen Streitkräfte. Entgegen ihrem Ruf, außenpolitisch oft nur sehr schwerfällig zu agieren, hat es die EU in dieser Krise geschafft, ihre internen Spaltungen und Interessensgegensätze zumindest kurzfristig zu überwinden. Die Frage ist nun, wie es der EU gelingen kann, diesen gemeinsamen Einsatz für die Wiederherstellung des Friedens in Europa auch auf längere Sicht aufrechtzuerhalten und auszubauen. Die EU steht hier vor einer entscheidenden Weichenstellung: Schafft sie es nicht, nach innen schnell enger zusammenzuwachsen, droht ihr die weitere Desintegration. Gerade die östlichen Mitgliedstaaten müssen wissen, ob sie sich auf die EU verlassen können.

Die EU muss den Ukrainekrieg zu einem Wendepunkt machen – und Russland damit die Möglichkeit nehmen, Europa in seinem Sinne neu zu ordnen. Die Chance dazu gibt es: Institutionelle Entwicklungen und Integrationsschübe entstehen in der EU häufig aus akuten Krisen und politischen Misserfolgen. Aber gerade die Entwicklung der außen- und sicherheitspolitischen Kompetenzen der EU ist auch eine Geschichte der inkrementellen und unvollendeten Reformen. Weitere Herausforderungen liegen auf der Hand: Zu den hohen wirtschaftlichen Kosten des umfassenden Sanktionsregimes für die Mitgliedstaaten der EU kommt die Tatsache, dass die EU im sicherheits- und verteidigungspolitischen Feld nach wie vor sehr eingeschränkte Kompetenzen hat und an schwerfällige Entscheidungsprozesse gebunden ist. Um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren, sollte die EU hier keine Versprechungen machen, die sie nicht halten kann.

Eine strategischere EU muss in einer gemeinsamen Kraftanstrengung aktiv ihre Kompetenzen ausbauen, um auch auf der Strecke die gemeinsame Politik gegenüber Russland durchhalten und auf lange Sicht wirksam den Frieden in Europa sichern zu können. Viele Schritte sind möglich: von der schnellen Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik über die Europäisierung von Fragen der Energiesicherheit bis hin zur Reduktion der ineffizienten und kostspieligen Duplizierungen militärischer Fähigkeiten in Europa.

Und nicht zuletzt: Die EU muss das Signal nach Moskau senden, dass die Rückkehr von Krieg in Europa die EU-Mitgliedstaaten noch entschlossener macht, die eigenen Werte und Lebensweisen und das europäische Friedensprojekt zu verteidigen. Dazu braucht die EU mehr als Verteidigungspolitik. Die EU als politisches Gemeinwesen braucht starke Institutionen, schnelle und schlanke Entscheidungsstrukturen und eine überzeugende Gegenerzählung zur erstarkten Macht autoritärer Staaten – und dafür, ja, auch einen neuen Verfassungskonvent.

Ursula Schröder ist Wissenschaftliche Direktorin des IFSH sowie Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, an der Universität Hamburg.
 


Der Westen setzt auf Abschreckung gegen Russland und sogar auf Waffenlieferungen. Ideen für Kooperation mit Russland scheinen zurzeit weltfremd. Trotzdem sind Gespräche nötig, und wenn es „nur“ um die Verringerung des Risikos eines Atomkriegs geht. Hierbei sind auf westlicher Seite die NATO und die USA zentral.

Aber auch die OSZE kann mittel- und langfristig eine neue Sicherheitsordnung mitgestalten. In den 1960er-Jahren haben Willy Brandt und Egon Bahr im Schatten der Krisen von Berlin und Kuba gemeinsame Interessen mit der Sowjetunion ausgelotet, was den Weg zur KSZE ebnete. Jetzt können ihre 57 Teilnehmerstaaten die OSZE nutzen, um gemeinsame Interessen zu identifizieren.

So braucht es Antworten auf die stetig wachsende Rolle Chinas im OSZE-Raum. Diese ist für Russland etwa in Zentralasien problematisch, auch wenn westliche Sanktionen Russland zwingen werden, sich enger an China zu binden. Kooperation ist auch bei Sicherheitsrisiken, die von Afghanistan ausgehen, denkbar.

Natürlich wird die OSZE nach diesem Krieg noch mehr belastet sein als vorher. Kaum mehr vorstellbar sind etwa gegenseitige Inspektionen im Rahmen des Wiener Dokuments. Was OSZE-Unterstützung von Menschenrechten und Demokratie angeht, so sehen Russland und andere Autokratien selbst kleinteilige Projekte als Teil der Bedrohung ihrer patronalen Systeme. Ein Übergang von friedlicher Koexistenz (sollte diese überhaupt erreicht werden) zu einer wertebasierten Friedensordnung (wie in der Charta von Paris 1990 festgeschrieben) ist mittlerweile nur noch ein schöner Traum.

Auch ist ein Ausgleich zwischen OSZE-Prinzipien jetzt noch schwieriger als vorher, weil jede Seite Fakten schafft. Russland betont die Unteilbarkeit von Sicherheit und will dafür die Ukraine entwaffnen. Der Westen beharrt auf Bündnisfreiheit und schürt durch Diskussionen über eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine alte Ängste im Kreml.

Damit die OSZE überhaupt eine Rolle spielen kann, braucht es nach Kriegsende auf höchster politischer Ebene die Bereitschaft zu Gesprächen. Im Westen hängt diese Bereitschaft aber wesentlich davon ab, ob Russland die Souveränität seiner Nachbarstaaten anerkennt, also die Ukraine nicht besetzt oder zerschlägt. Der Westen sollte im Falle von Gesprächen russische Sicherheitsbedenken ernst nehmen, auch wenn man diese für irrational oder – nach diesem brutalen Angriffskrieg – für illegitim hält.

Ob die OSZE den Krieg überlebt oder etwa durch einen Austritt Russlands ihre raison d'être verliert, ist unklar.

Cornelius Friesendorf ist Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE) und Wissenschaftlicher Referent am IFSH.
 

„Für die OSZE mit ihren 57 Teilnehmerstaaten inklusive Russland ist die Zukunft durch diesen russischen Angriffskrieg ungewiss. Ob Regierungen die OSZE nach dem Krieg als Dialogforum nutzen, hängt wesentlich davon ab, ob Russland die Souveränität seiner Nachbarstaaten anerkennt.”


Elvira Rosert ist Juniorprofessorin am IFSH und an der WISO-Fakultät der Universität Hamburg.
 

„Anstelle des blockierten UN-Sicherheitsrats hat die Generalversammlung den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt. Die Vereinten Nationen müssen jetzt den nächsten Schritt gehen und dabei v. a. ihr Friedensinstrumentarium aktivieren.”


Martin Kahl ist stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor am IFSH und leitet dort den Forschungsbereich Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit. Hendrik Hegemann ist Wissenschaftlicher Referent im Forschungsbereich Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit.
 


In Berlin und ganz Europa demonstrieren Menschen für den Frieden in der Ukraine © dpa Paul Zinken